01 2007
Kreativindustrie als Massenbetrug
Übersetzt von Jens Kastner
Das Kulturindustrie-Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno trägt die Überschrift „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“. Als Horkheimer und Adorno Anfang der 1940er Jahre ihren Essay verfassten, richteten sie sich damit gegen den wachsenden Einfluss der Unterhaltungsindustrie, gegen die Kommerzialisierung der Kunst und gegen die totalisierende Vereinheitlichung „der Kultur“, vor allem im Land ihrer Emigration, den USA. Ihre skeptische Haltung zu den neuen Medien Rundfunk und Film veranlasste die beiden Autoren dazu, in wortgewaltigem Stil mit kulturpessimistischen Untertönen ein breites Spektrum des kulturellen Feldes mit einem Konzept zu fassen, das in kulturellen Sphären kaum fremder scheinen konnte: Sie bezeichneten die Kultur als Industrie.
Die Thesen Horkheimers und Adornos blieben fast zwei Jahrzehnte lang, auch nach der Übersiedlung nach Europa, ein eher nur im Umkreis des Instituts für Sozialforschung verhandelter Geheimtipp. Im Laufe der 1960er Jahre begann die Wirkungsgeschichte sich jedoch langsam zu entfalten, um sich in der Aktualisierung der Medienkritik in den 1970er Jahren vollends zu etablieren: Die Dialektik der Aufklärung wurde ein Eckpfeiler der Literatur nicht nur zur Ambivalenz der Aufklärung, sondern auch und vor allem zur rigorosen Zurückweisung einer „Ökonomisierung der Kultur“. Und im kulturellen Feld, in dem nach wie vor die Mythen des Genies, der Originalität und der Autonomie nicht unwesentliche Anknüpfungspunkte darstellen, ist „Industrie“ auch heute, 60 Jahre nach der späten Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung nicht viel mehr als ein Schimpfwort. Es fragt sich daher, wie es passieren konnte, dass mit einer einfachen Verschiebung vom Singular zum Plural, von Kulturindustrie zu Creative und Cultural Industries, gerade diese Begriffsmarke heute zu so etwas wie einem universellen Heilsversprechen umgedeutet werden konnte – und zwar nicht nur für ein paar PolitikerInnen[1], sondern auch für viele AkteurInnen des Feldes selbst.
Eine mögliche Erklärung für dieses Paradox erschließt sich aus der genaueren Betrachtung der Subjektivierungsweisen in den Feldern, Strukturen und Institutionen, die mit den Begriffen Kreativ- und Kulturindustrie(n) beschrieben wurden und werden. Ich möchte diese Subjektivierungsweisen und die spezifischen Institutionen des Feldes diskutieren, indem ich vier Komponenten des Kulturindustrie-Konzeptes untersuche und sie dann in gegenläufiger Reihenfolge von vier bis eins mit ihren aktualisierten Gegenstücken innerhalb der heutigen Creative Industries vergleiche.
1. Das
Kulturindustrie-Kapitel bezog sich in erster Linie auf die wachsende Film- und
Medienindustrie, vor allem das Hollywood-Kino und die privaten Radiostationen
in den USA. Ganz anders als ihr Kollege Walter Benjamin oder auch Bertolt
Brecht, die beide eher ambivalente Sichtweisen hinsichtlich der Probleme und
Möglichkeiten vertraten, die die technische Reproduzierbarkeit, die
Massenmedien und die mannigfaltigen Aspekte der Produktion und der Rezeption unter
neuen Bedingungen mit sich brachten, bewerteten Adorno und Horkheimer die
Kulturindustrie durchgehend negativ: als zunehmend totalisierende Spirale aus
systematischer Manipulation und dem „rückwirkenden Bedürfnis“, sich immer
stärker diesem System anzupassen.
„Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen.“[2] In der Interpretation des Instituts für Sozialforschung ist diese einstimmige Form der Kulturindustrie die institutionelle Struktur für Subjektivierungsweisen, die das Individuum der Macht und der Totalität des Kapitals unterwerfen. Die erste Komponente des Konzepts der Kulturindustrie nach Horkheimer und Adorno besteht also darin, dass sie ihr Publikum totalisiert und einem permanent wiederholten und doch unerfüllt bleibenden Versprechen aussetzt: „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht.“[3] Dieser endlose Kreislauf des Versprechens, das einen Wunsch erzeugt und ihn zugleich andauernd in einer unproduktiven Art von Schwebe hält, macht den Kern der Idee von der Kulturindustrie als Instrument des Massenbetrugs aus. Für Horkheimer und Adorno sind die Produkte der Kulturindustrie sämtlich so beschaffen, dass sie jegliche Vorstellungskraft, Spontaneität, Fantasie und jedes aktive Denken auf Seiten der ZuschauerInnen leugnen oder gar verhindern. Diese ultrapassive Form des Konsums korreliert mit der Tendenz der Kulturindustrie, ihr Publikum peinlich genau zu registrieren und statistisch zu verarbeiten: „Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt.“[4]
Die KonsumentInnen erscheinen als Marionetten des Kapitals, gezählt, gerastert, gefangen im gekerbten Raum der Kulturindustrie. „Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen. Wie freilich die Beherrschten die Moral, die ihnen von den Herrschenden kam, stets ernster nahmen als diese selbst, verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs. Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt.“[5] Im Bild von den dem anonymen kulturindustriellen Verführungsapparat verfallenen KonsumentInnen zeigt sich freilich die Spitze und zugleich die Beschränkung des Ansatzes von Horkheimer und Adorno: Die Figur der „betrogenen Massen“ viktimisiert diese als passiv, fremdbestimmt, betrogen und versklavt.
2. Als zweite
Komponente in Horkheimers und Adornos Konzept der Kulturindustrie lässt sich
auch ein spezifisches Bild der Produktion ausmachen: Erweisen sich die
Positionen der KonsumentInnen und ProduzentInnen in der Darstellung der beiden
Autoren auch klar getrennt, so ist diese Trennung aber nicht als dualistische
Figur von aktiven und passiven Subjekten der Kulturindustrie gedacht.
Stattdessen sind beide in einer merkwürdig parallelen Heteronomie ineinander
verstrickt. Wie die KonsumentInnen erscheinen auch die ProduzentInnen als
unterjochte, passive Funktionen des Systems. Im Gegensatz zu Benjamins Theorie
der Autorschaft und der neuen Medien, in der sich AutorInnen durch Veränderung
des Produktionsapparates in ProduzentInnen verwandeln können, und auch im
Gegensatz zu Brechts Lehrstück-Theorie und -Praxis der frühen 1930er Jahre, in
der es von Haus aus statt einem konsumierenden Publikum nur noch AutorInnen und
ProduzentInnen gibt, zeigt Horkheimers und Adornos starres Bild nur eigentümlich
passive ProduzentInnen, die selbst in der Totalität der Kulturindustrie
gefangen sind. Soziale Unterwerfung bleibt die einzig denkbare
Subjektivierungsweise, auch auf Seiten der Produktion. Das prägnanteste
Beispiel im Kulturindustrie-Kapitel zeigt die AkteurInnen in Radiosendungen als
„zur Unfreiheit verhaltene“ Funktionen des Betriebs: „Sie beschränken sich auf
den apokryphen Bereich der ‘Amateure’, die man zudem noch von oben her
organisiert. Jede Spur von Spontaneität des Publikums im Rahmen des offiziellen
Rundfunks aber wird von Talentjägern, Wettbewerben vorm Mikrophon, protegierten
Veranstaltungen aller Art in fachmännischer Auswahl gesteuert und absorbiert.
Die Talente gehören dem Betrieb, längst ehe er sie präsentiert: sonst würden
sie nicht so eifrig sich einfügen.“[6] In der Tat erweist sich das Bild der nur scheinbar protagonistischen
StatistInnen angesichts seiner Aktualisierung in Reality-TV, Doku-Soaps und
Casting-Shows heute plausibler denn je: Vor dem Hintergrund eines weiteren
Begriffes von ProduzentInnen, die nicht nur materialisierte Kulturwaren,
sondern Affekte und Kommunikation her- und bereitstellen, wird das Bild eines
totalisierenden Systems, das jede Bewegung und jede Stimmung determiniert, nur noch
düsterer.
Diese Verdunkelung wird schon von Horkheimer und Adorno antizipiert, allerdings in merkwürdig feminisierter Form: „Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt und absolviert, der Tonfall am Telefon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch, ja das ganze nach den Ordnungsbegriffen der heruntergekommenen Tiefenpsychologie aufgeteilte Innenleben bezeugt den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht.“[7] Dem Apparat der Kulturindustrie korrelieren die Menschen-Apparate. Sowohl KonsumentInnen als auch ProduzentInnen erscheinen als SklavInnen der Totalität und der Ideologie, von einem abstrakten System geformt und bewegt. Als Apparate sind sie nichts als Rädchen in einem noch größeren Getriebe, Teil einer Institution mit dem Namen Kulturindustrie.
3. Als Effekt der
Beziehung zwischen dem Getriebe und seinen Rädchen ergibt sich die dritte
Komponente des Kulturindustrie-Konzeptes. Sie besteht darin, dass die
AkteurInnen, die KulturproduzentInnen, als Angestellte Gefangene der
Institution(en der) Kulturindustrie sind. Die institutionelle Form, in der sich
die Kulturindustrie nach Horkheimer/Adorno entwickelt, ist jene des riesigen Musik-,
Unterhaltungs- oder Medienkonzerns. Die Kreativen finden sich eingeschlossen innerhalb
eines Institutionengefüges, in dem ihre Kreativität durch die Form abhängiger
Arbeit unterdrückt wird. In der Dialektik
der Aufklärung wird dieser Zusammenhang von die Kreativität einschließender
Anstellung und sozialer Unterwerfung allgemein so beschrieben: „Im Grunde geht
es dabei um die Selbstverhöhnung des Mannes. Die Möglichkeit, zum ökonomischen
Subjekt, Unternehmer, Eigentümer zu werden, ist vollends liquidiert. Bis hinab
zum Käseladen geriet das selbständige Unternehmen, auf dessen Führung und
Vererbung die bürgerliche Familie und die Stellung ihres Oberhaupts beruht
hatte, in aussichtslose Abhängigkeit. Alle werden zu Angestellten, und in der
Angestelltenzivilisation hört die ohnehin zweifelhafte Würde des Vaters auf.“[8]
Wie also aussichtslose Abhängigkeit und soziale Kontrolle in der Welt der Angestellten im allgemeinen vorherrsche, so wird selbst die letzte Zufluchtstätte der Autonomie (und hier spiegelt sich schon früh der Romantizismus der künstlerischen Autonomie aus Adornos Spätwerk, der Ästhetischen Theorie[9]), die Produktion von Kreativität, als gerastert, strukturiert und klassifiziert beschrieben, die große Zahl ihrer ursprünglich als widerständig verstandenen AkteurInnen am Ende als Angestellte zivilisiert. Gemäß der anthropologischen Institutionendefinition würde die Institution im Gegenzug die Angestellten mit Sicherheit versorgen und ein gewisses Maß an Handhabe unauflösbarer Widersprüche versprechen. Auch wenn die spezifischen Institutionen der Kulturindustrie nicht ewig währen, sollen ihre Apparate genau aufgrund ihrer Apparathaftigkeit diesen Eindruck erwecken und auf diese Weise die Subjekte entlasten. Für Horkheimer und Adorno ist aber selbst diese Vorstellung allein dem Effekt geschuldet, dass „betriebswissenschaftliche Kameradschaftspflege […] noch die letzte private Regung unter gesellschaftliche Kontrolle“ bringt.[10]
4. Als vierte und
letzte Komponente ist die Entwicklung der Kulturindustrie als Ganzes nach
Horkheimer und Adorno als verspätete
Transformation des kulturellen Feldes zu betrachten, die jene Prozesse nachholt,
welche in der Landwirtschaft oder in dem, was landläufig Industrie genannt
wird, zum Fordismus geführt haben. Im Gegensatz zu den mächtigsten Sektoren der
Industrie – Stahl, Öl, Strom und Chemie – seien die Kulturmonopole allerdings
schwach und abhängig. Auch noch die letzten Reste des Widerstands gegen den
Fordismus wären – auch hier wieder ein Anklang an die ehemals heroische
Funktion der autonomen Kunst – zu Fabriken geworden. Die neuen
Kreativitätsfabriken, das Zeitungswesen, das Kino, das Radio und das Fernsehen,
passten sich den Kriterien der fordistischen Fabrik an. Der Fließbandcharakter ordnete
demnach die Kreativitätsproduktion der Kulturindustrie in ähnlicher Weise, wie er es zuvor
mit der Landwirtschaft und der Metallverarbeitung getan hat: durch Serialisierung,
Standardisierung und die totale Beherrschung der Kreativität. „Zugleich aber
hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie
bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder
des Arbeitsvorgangs selbst.“[11] Die Funktion der Kreativitätsfabriken besteht also nach
Horkheimer/Adorno einerseits in der mechanisierten Herstellung von
Unterhaltungsgütern und andererseits – über die herkömmlichen
Produktionsbereiche hinaus – in der Festlegung und Kontrolle der Reproduktion, wobei
die Reproduktion den Produktionsweisen in einer Fabrik mehr und mehr
angeglichen wird.
***
4. Anstatt die Kulturindustrie als etwas zu betrachten, das im kulturellen Feld die bürgerliche Kunst und die Avantgarden ersetzt und ein im Außen der Kultur entwickeltes, fordistisches Modell ins kulturelle Feld übersetzt, fragt der postoperaistische Philosoph Paolo Virno nach der Rolle, der der Kulturindustrie bei der Überwindung des Fordismus und des Taylorismus zukommt. Seinen Ausführungen in der Grammatik der Multitude gemäß „hat sie das Paradigma der postfordistischen Produktion in ihrer Gesamtheit auf den Punkt gebracht. Insofern bin ich auch der Ansicht, dass die Verfahrensweisen der Kulturindustrie von einem bestimmten Zeitpunkt an exemplarischen Charakter angenommen haben und in alle anderen Bereiche eingedrungen sind. In der Kulturindustrie, auch in jener von Adorno und Benjamin untersuchten archaischen Form, findet sich die Vorwegnahme einer Produktionsweise, die sich dann mit dem Postfordismus allgemein durchsetzt und zum Rang eines Kanons aufsteigt.“[12] Hier findet sich eine fruchtbare Umkehrung der Interpretation als verspätet industrialisiertes und seiner Freiheit beraubtes Feld, wie sie von der Kritischen Theorie konzeptualisiert wurde: Während Horkheimer und Adorno die Kulturindustrie als störrische Nachzüglerin der fordistischen Transformation beschreiben, fasst Virno sie als Antizipation und Paradigma postfordistischer Produktionsweisen.
Für Horkheimer und Adorno bildeten die Institutionen der Kulturindustrie moderne kulturelle Monopole und dennoch zugleich einen ökonomischen Bereich, in dem die Sphäre liberaler Zirkulation – neben der unternehmerischen und trotz der Desintegration anderswo – teilweise noch überleben kann. Innerhalb der vorgeblichen Totalität der Kulturindustrie tauchen so zwar kleine Räume von Differenz und Widerstand auf, aber auch diese Differenz ist schnell wieder in jene Totalität integriert, wie Horkheimer und Adorno nicht zögern zu erklären: „Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie der Bodenreformer zum Kapitalismus.“[13]
In dieser Beschreibung ist die Differenz im Dienste der Erreichung neuer Produktivitätsstufen nichts mehr als ein Überbleibsel der Vergangenheit, das die allgemeine Fordisierung der Kulturindustrie als Rest abwirft. Aus Virnos Perspektive „scheint nun, dass man diese angeblichen Überbleibsel, wenn man die Dinge aus heutiger Sicht betrachtet, unschwer als äußerst zukunftsträchtig identifizieren kann (ein gewisser Raum, der dem Informellen, dem Unvorhergesehenen, dem Nicht-Programmierten zugestanden wird). Es handelte sich demnach nicht um Reste, sondern um Vorahnungen, um Vorwegnahmen. Das Informelle am kommunikativen Handeln, die typisch konkurrenzbasierte Interaktion einer Redaktionssitzung, die plötzliche Änderung, die den Verlauf eines Fernsehprogramms beleben kann, in einem allgemeinen Sinn das, bezüglich dessen es nicht sinnvoll gewesen wäre, wenn man es über ein bestimmtes Maß hinaus festgelegt und reglementiert hätte, ist heute, in der postfordistischen Epoche, zum Wesenszug der gesamten gesellschaftlichen Produktion geworden. Nicht nur der heutigen Kulturindustrie, sondern auch der Fiat-Fabrik in Melfi.“[14] Aus der Sicht postoperaistischer Theorie ist die Kulturindustrie nicht nur ein schwacher und verspäteter Industriezweig im Prozess der Fordisierung, sondern auch ein Zukunftsmodell und eine Vorwegnahme der weiten Verbreitung postfordistischer Produktionsweisen: Informelle, nicht programmierte Räume, Offenheit für Unvorhergesehenes, kommunikative Improvisationen sind darin weniger Rest denn Kern, weniger Rand denn Mitte.
3. Die Medien- und
Unterhaltungskonzerne der Kulturindustrie erwiesen sich nach Horkheimer und
Adorno als institutionelle Struktur für die Unterwerfung des Individuellen
unter die Kontrolle des Kapitals, damit als Orte reiner sozialer Unterwerfung.
Selbst wenn wir diese einseitig strukturalistische Sichtweise für frühe Formen
der Kulturindustrie gelten lassen, scheint sich hier seit der Mitte des 20.
Jahrhunderts etwas verändert zu haben. Diese Veränderung lässt sich einerseits
mit Begriffen fassen, die Gilles
Deleuze und Félix Guattari in den 1970ern entwickelt haben: Hier ging es
vor allem um die unten weiter ausgeführte Erkenntnis, dass jenseits sozialer
Unterwerfung sich eine zweite Linie entwickelt, die neben strukturellen
Faktoren die aktive Involvierung und die Subjektivierungsweisen betont. Deleuze
und Guattari nennen diese zweite Linie in Abgrenzung zur sozialen Unterwerfung
[assujettissement social] „maschinische
Indienstnahme“ [asservissement machinique].[15]
Neben dieser Problematisierung auf begrifflicher Ebene lässt sich andererseits
für heutige Phänomene fragen, welche Subjektivierungsweisen in den neuen
institutionellen Formen der Kreativindustrie im Entstehen begriffen sind. Denn
was heute – nicht nur in den Diskursen neoliberaler Kulturpolitik und
Stadtplanung – Creative Industries
genannt wird, unterscheidet sich in Form und Funktion beträchtlich von der
Kulturindustrie alter Schule.
Gerade wenn wir uns der dritten, die institutionelle Form betreffenden Komponente zuwenden, wird offensichtlich, dass die unter Creative Industries gelabelten Gefüge nicht mehr in Form riesiger Medienunternehmen strukturiert sind, sondern hauptsächlich als Kleinbetriebe selbstständiger KulturproduzentInnen in den Bereichen neue Medien, Mode, Grafik, Design, Pop, im Idealfall als Anhäufung solcher Kleinbetriebe, also Clusters. Wenn wir nach den Institutionen der Creative Industries fragen, scheint es angemessener zu sein, von Nicht-Institutionen oder Pseudo-Institutionen zu sprechen. Während die Modellinstitutionen der Kulturindustrie große und langfristig bestehende Unternehmen waren, erweisen sich die Pseudo-Institutionen der Creative Industries zeitlich begrenzt, ephemer und projektbasiert.
Diese „Projektinstitutionen“[16] scheinen den Vorteil zu haben, sich auf Selbstbestimmung und die Ablehnung der rigiden Ordnung fordistischer Regimes zu gründen. In den letzten beiden Abschnitten dieses Textes werde ich diskutieren, wie überzeugend dieses Argument ist. An dieser Stelle jedoch möchte ich unter Bezugnahme auf die oben erwähnte, im Hinblick auf die Bewältigung von Widersprüchen entlastende Funktion der Institutionen hervorheben, dass diese Projektinstitutionen der Creative Industries, anstelle der alten institutionellen Aufgabe der Entlastung und Verwaltung von Widersprüchen nachzukommen, ganz im Gegenteil viel eher Prekarisierung und Unsicherheit fördern. Denn die Idee der „Projektinstitutionen“ zeichnet sich ja durch einen schreienden Widerspruch aus: Auf der einen Seite legt sie es auf die langfristige Entlastung an, die das Konzept der Institution impliziert und auf der anderen Seite beruht der Begriff des Projektes gerade darauf, dass er nicht ohne zeitliche Begrenzung zu denken ist. Um noch einmal ein Motiv aus Paolo Virnos Grammatik der Multitude aufzugreifen und auf das Phänomen der „Projektinstitution“ zu beziehen: Die Widersprüchlichkeit der Institution als eines Projekts führt unweigerlich zu jener von Virno beschriebenen vollständigen Überlappung von Angst und Furcht, von relativer und absoluter Sorge und letztlich zu einer totalen Ausbreitung dieser Sorge über die Arbeit hinaus auf alle Bereiche des Lebens.[17]
Wenn Horkheimer und Adorno noch darüber lamentierten, dass den Subjekten der Kulturindustrie als Angestellten die Möglichkeit vorenthalten blieb, freischaffende UnternehmerInnen zu werden, so erscheint dieses Problem in der gegenwärtigen Situation vollständig umgekehrt. Der/die selbstständige UnternehmerIn ist zum Mainstream geworden, egal ob er oder sie nun als Teilzeitbeschäftigte/r von Projekt zu Projekt hechelt oder einen Kleinbetrieb nach dem anderen aufbaut. Und selbst die Nachfolger der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts, die großen Medienkonzerne, betreiben unter der Flagge der Entrepeneurship eine Politik des Outsourcing und der ausgelagerten Subunternehmen. In diesen neueren Medienkonzernen mit ihrer Konvergenz vom Printbereich über audiovisuelle Medien bis zum Internet bleiben in vielen Fällen – und das gilt selbst für öffentlich-rechtliche Medien – nur noch einige Kernbereiche in der Administration für Festangestellte übrig. Dagegen arbeiten die meisten, die als Kreative bezeichnet werden, freischaffend und/oder als selbstständige UnternehmerInnen mit oder ohne begrenzte(n) Verträge(n). Zynisch ließe sich sagen, dass sich Adornos Melancholie über den Verlust der Autonomie in den Arbeitsbedingungen der Creative Industries auf perverse Weise realisiert: Die Kreativen werden in eine spezifische Sphäre der Freiheit, Unabhängigkeit und der Selbstregierung entlassen. Hier wird die Flexibilität zu einer despotischen Norm, die Prekarisierung der Arbeit zur Regel, die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen ebenso wie jene zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit, und die Prekarität dringt von der Arbeit in das gesamte Leben vor.
2. Aber woher rührt
diese universelle Prekarisierung? Ist die Kreativindustrie wie die Kulturindustrie
ein System, das seine Subjekte unterwirft? Oder gibt es eine spezifische Form
der Involvierung der AkteurInnen in diesen Prozess der Prekarisierung? Um die
zweite Komponente zu diskutieren, die gegenwärtigen Modi der Subjektivierung im
kulturellen Feld, möchte ich auf Isabell Loreys Ausführungen über biopolitische
Gouvernementalität und Selbstprekarisierung[18] zurückkommen. Lorey spricht von Prekarisierung als einer Kraftlinie
innerhalb der liberalen Gouvernementalität und biopolitischer Gesellschaften.
Diese weit in die Neuzeit zurückreichende Kraftlinie wurde in spezifischer Art
und Weise durch die Lebens- und Arbeitsbedingungen aktualisiert, die im Kontext
der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre und auf Grundlage der Prinzipien
der Post-68er-Generation entstanden waren: selbst zu entscheiden, was und mit
wem und wann man arbeiten will und die selbstbestimmte Entscheidung für prekäre
Lebens- und Arbeitsverhältnisse. An dieser Stelle entwickelt Lorey den Begriff
selbstbestimmter Prekarisierung oder „Selbstprekarisierung“: Schon unter
Bedingungen liberaler Gouvernementalität mussten Menschen eine kreative und
produktive Beziehung zu sich selbst entwickeln; diese Praxis der Kreativität
und die Befähigung, sich selbst zu gestalten, war Teil gouvernementaler
Selbsttechnologien seit dem 18. Jahrhundert. Aber was sich mit Lorey nun
verändert hat, ist die Funktion der
Prekarisierung: Aus einem immanenten Widerspruch innerhalb der liberalen
Gouvernementalität wurde eine Funktion der Normalisierung in der neoliberalen
Gouvernementalität, aus einer inklusiven Ausschließung an den Rändern der
Gesellschaft ein Prozess in ihrem Zentrum. Im Laufe dieser Entwicklungen – und
das erklärt auch die Transformationen der von Horkheimer und Adorno
beschriebenen Phänomene bis zu heutigen Formen der Creative Industries – waren die Experimente der 1970er Jahre zur
Entwicklung selbstbestimmter Arbeits- und Lebensformen als Alternativen zum
normalisierten und reglementierten Arbeitsregime besonders einflussreich. Mit
der souverän gedachten Emanzipation aus dem räumlich und zeitlich rigide
gerasterten Alltag entstand auch eine Verstärkung jener Linie, die Subjektivierung
jenseits von sozialer Unterwerfung nicht mehr nur als emanzipatorisch denken
lässt: „[…] genau diese alternativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse [sind]
immer stärker ökonomisch verwertbar geworden, weil sie die Flexibilisierung
begünstigten, die der Arbeitsmarkt forderte. So waren Praktiken und Diskurse
sozialer Bewegungen in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren nicht nur
dissident und gegen Normalisierung gerichtet, sondern zugleich auch Teil der
Transformation hin zu einer neoliberalen Ausformung von Gouvernementalität.“[19]
Damit sind wir also in der Gegenwart angelangt: in einer Zeit, in der die alten Ideen und Ideologien von Autonomie und Freiheit des Individuums (insbesondere des Individuums als genialen Künstlers) samt spezifischer Aspekte von Post-68er-Politik sich in einen hegemonialen neoliberalen Modus der Subjektivierung verwandelt haben. Selbstprekarisierung bedeutet, zur Ausbeutung jedes Aspekts des Lebens, inklusive der Kreativität, ja zu sagen. Dies ist das Paradox der Kreativität als Selbst-Regierung: „[…] sich zu regieren, sich zu beherrschen, zu disziplinieren und zu regulieren bedeutet zugleich, sich zu gestalten, zu ermächtigen und in diesem Sinne frei zu sein.“[20] Hier klingt vielleicht auch die begriffliche Differenz durch, die den Unterschied zwischen dem Branding von Kultur- und Kreativindustrie ausmacht: Während Kulturindustrie noch die abstrakt-kollektive Komponente der Kultur hervorzuheben schien, ereignet sich in den Creative Industries eine ständige Anrufung der Produktivität des Individuums. Einen solchen Unterschied zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen gibt es allerdings nur auf der Ebene der Anrufung, die Industrien der Kreativität zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie quer zu diesem Dualismus stehen.
1. Rufen wir uns nun zuletzt
die erste Komponente von Horkheimers und Adornos Konzept in Erinnerung, die
Kulturindustrie totalisiere das Individuum und unterwerfe die KonsumentInnen vollständig
der Herrschaft des Kapitals. Mithilfe von Isabell Loreys Thesen dürfte eine Erweiterung
des Blickfelds möglich geworden sein: von der Beförderung reduktionistischer Totalitäts-
und Heteronomiekonzepte hin zu einem Fokus auf die spezifische Eingebundenheit
von Praktiken des Widerstands gegen die Totalisierung der Kreativität, die wiederum
zu den gegenwärtigen Subjektivierungsweisen geführt haben.
Die Kulturindustrie erzeugt „Vorbilder für die Menschen, die sich selbst zu dem machen sollen, wozu das System sie bricht.“[21] Wenn auch logisch widersprüchlich, deutet sich hier – wie auch an anderen Stellen in der Dialektik der Aufklärung – eine Ambivalenz an, die selbsttätige Indienstnahme und fremdbestimmte Unterwerfung durch ein totalisierendes System wenn schon nicht miteinander verbindet, so immerhin gleichen Rechts nebeneinander setzt. Für Deleuze und Guattari sind Indienstnahme und Unterwerfung gleichzeitig vorhandene Pole, die sich in denselben Dingen und denselben Ereignissen aktualisieren. Im Regime der sozialen Unterwerfung konstituiert eine höhere Einheit den Menschen als Subjekt, das sich auf ein äußerlich gewordenes Objekt bezieht. Im Modus der maschinischen Indienstnahme sind Menschen keine Subjekte, sondern wie Werkzeuge oder Tiere Teile einer Maschine, die das Ganze übercodiert. Gerade am Phänomen der Creative Industries lässt sich das Zusammenwirken der beiden Regimes gut sehen, zweier Teile, die einander unaufhörlich verstärken, wobei die Komponente der maschinischen Indienstnahme durch ein Mehr an Subjektivierung an Bedeutung gewinnt. „Muss man also von einer freiwilligen Knechtschaft sprechen?“, fragen Deleuze und Guattari, und ihre Antwort ist: Nein. „Es gibt eine maschinische Indienstnahme, und man könnte jeweils sagen, dass sie nur als schon vollendete erscheint und dass sie ebenso wenig ‚freiwillig’ wie ‚erzwungen’ ist.“[22]
Aus der Perspektive der doppelten Bewegung der Unterwerfung unter eine soziale Einheit und der Indienstnahme innerhalb einer Maschine lässt sich an Horkheimers und Adornos Idee von einem System auf der einen Seite, das als Totalität funktioniert, und den passiven Individuen auf der anderen Seite nicht festhalten. Die Subjektivierungsweisen rekonstruieren vielmehr immer und immer wieder Totalität, sie sind weder freiwillig noch erzwungen eingebunden in die Prozesse der sozialen Unterwerfung und der maschinischen Indienstnahme. Und hier finden wir schließlich auch eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Wie konnte es passieren, dass diese kleine Verschiebung von Kulturindustrie zu Creative und Cultural Industries nicht nur für PolitikerInnen, sondern auch für viele AkteurInnen innerhalb des Feldes zu einer Marke universeller Erlösung wurde? Es konnte genau dadurch geschehen, dass die Subjektivierungsweisen der maschinischen Indienstnahme sowohl mit Begehren als auch mit Anpassung verbunden sind und die AkteurInnen der Creative Industries die Anrufung derart deuten, dass sie immerhin die Entscheidung zur Selbstprekarisierung selbst getroffen haben. Insofern und um auf den Titel dieses Textes zurückzukommen, ist es angesichts der Involvierung der AkteurInnen in den Modus der maschinischen Indienstnahme kaum angemessen, von „Massenbetrug“ zu sprechen – und ich möchte bezweifeln, ob es überhaupt jemals sinnvoll war. Im Kontext der Kreativindustrie wäre es daher passender, von „massenhaftem Selbstbetrug“ als einem Aspekt der Selbstprekarisierung zu sprechen. Und diesem „Selbstbetrug“ wäre auch die Möglichkeit des Widerstands hinzuzufügen, der sich auf der Immanenzebene dessen aktualisiert, was heute noch als Creative Industries gelabelt wird.
[1] Im kulturpolitischen Zusammenhang liegt die Deutung nahe, dass im Zuge der europaweiten Etablierung des Begriffs Creative Industries in kulturpolitischen Programmen Mittel staatlicher Kunstfinanzierung von der Förderung kritischer/devianter Positionen zunehmend zur Förderung von kommerziellen Unternehmen verschoben werden sollen.
[2] Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main: Fischer 1990, S. 128.
[3] ebd., S. 148.
[4] ebd., S. 131.
[5] ebd., S. 141 f.
[6] ebd., S. 130.
[7] ebd., S. 176.
[8] ebd., S. 162.
[9] Gegen Adornos Substantialisierung der Autonomie bürgerlicher Kunst gewandt, konnte allerdings schon lange eingewendet werden, dass gerade diese als totale, heteronomisierende und hierarchisierende Praxis wirkt und den Raum der Produktion wie der Rezeption kerbt: Der vielstufige Produktionsapparat des bürgerlichen Theaters etwa oder die extreme Disziplin in klassischen Orchestern korreliert den Rezeptionsgewohnheiten in beiden Feldern.
[10] ebd., S. 159.
[11] ebd., S. 145.
[12] Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Wien: Turia + Kant 2005, S. 76f.
[13] Horkheimer/Adorno, a. a. O., S. 140.
[14] Virno, a. a. O., S. 78.
[15] Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve 1992, S. 633-636.
[16] Zum Begriff der Projektinstitution vgl. den Beitrag Stefan Nowotnys in dieser Ausgabe: /transversal/0207/nowotny/de.
[17] Vgl. Virno, a. a. O., S. 38 f.
[18] Isabell Lorey, „Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung“, /transversal/1106/lorey/de.
[19] ebd.
[20] ebd.
[21] Horkheimer/Adorno, a. a. O., S. 162.
[22] Deleuze/Guattari, a. a. O., S. 638, Übersetzung mod.