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03 2018

Dividende

Gerald Raunig

Tausend Maschinen

[: Das Narrativ vom Maschine-Werden des Menschen als rein technische Veränderung verfehlt das Maschinische, sowohl in seiner zivilisationskritischen Ausformung als auch in seiner euphorischen Tendenz. Nicht mehr um eine Konfrontation von Mensch und Maschine soll es gehen, um die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen durch das andere, um immer neue Ähnlichkeitsverhältnisse und metaphorische Bezüge von Menschen und Maschinen, sondern um die Verkettungen, darum, wie Menschen mit anderen Dingen eine Maschine konstituieren. Diese „anderen Dinge“ mögen Tiere, Werkzeuge, Körper, Aussagen, Zeichen oder Wünsche sein, sie werden Maschine jedoch nur in einem Prozess des Austausches, nicht im Paradigma der Ersetzung. Hauptmerkmal der Maschine ist nach Guattari das Strömen ihrer Komponenten: Jede Verlängerung oder Ersetzung wäre eine Kommunikationslosigkeit, und die Qualität der Maschine ist genau umgekehrt jene der Kommunikation, des Austausches. Im Gegensatz zur Struktur, die zur Schließung tendiert, entspricht das Maschinische einer tendenziell permanenten Praxis des An-schließens.

Maschinische Indienstnahme, über soziale Unterwerfung hinaus die Subjektivierungsweisen steuernd, ist die gouvernementale Schattenseite der Potenzialität auch von avancierten Kommunikationsmitteln. Die Ab-hängigkeit von den Maschinen verstärkt sich im durchgehenden An-hängen, an den Maschinen Hängen, an die Maschinen Angehängtsein. Die hohe Kunst maschinischer Indienstnahme verschränkt ein permanentes Online-Leben mit dem Imperativ des lebenslangen Lernens und dem unauflöslichen Ineinanderfließen von Geschäften und Affekten. Die Begehrensströme des ubiquitären An-hängens erzeugen neue Formen der Abhängigkeit, die das materielle Eindringen der technischen Maschine in den menschlichen Körper nur mehr als sekundäres Schreckensszenario erscheinen lassen. Und dennoch: Wunschmaschinen sind nicht einfach nur Werkzeuge maschinischer Indienstnahme, die kleinen Vorsprünge widerständiger Nutzung neuer abstrakt-diffuser Maschinen in der Zerstreuung sind keineswegs immerschon im Vorhinein übercodiert.

Verkettungen von kettenlosen Maschinen, verbunden durch das Fehlen jeglichen Bands. :]


Kapitalismus und Maschine

Maschinischer Kapitalismus bedeutet keine neue Phase des Kapitalismus, kein neues „Zeitalter der Maschine“, kein weiteres Glied in der Abfolge von industriellem und postindustriellem, fordistischem und postfordistischem Kapitalismus oder Liberalismus und Neoliberalismus. Das Maschinische ist eine den Kapitalismus in seinen verschiedenen Ausformungen begleitende und durchquerende Kategorie, hilfreich auch zur Unterscheidung dieser historisch unterschiedlichen Prägungen. Von Mary Shelleys Frankenstein über das Marxsche Maschinenfragment bis zum Appendix des Anti-Ödipus erscheinen immer neue Deutungen des Maschinischen, aber nicht derart, dass die Menschen die technischen Apparate bestimmen würden oder die Apparate die Menschen. Das Maschinische verändert sich mit den Mutationen des Kapitalismus, es passt sich an, verformt sich, und formt zugleich seine Umgebung.

Gilles Deleuze erklärt diese Mutationen von Maschine und Kapitalismus in seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ als Arrangement in drei Etappen: Die Souveränitätsgesellschaften kombinieren Hebel, Flaschenzüge und Uhren mit der souveränen Regierung der Subjekte, die Disziplinargesellschaften verbinden die energetischen Apparate mit der Einschließung der Subjekte, und die Kontrollgesellschaften operieren mit „Maschinen der dritten Art“1 und Subjektivierungsweisen, die vielleicht mehr als je zuvor als maschinische Indienstnahme zu bezeichnen sind. Dieses Schema versteht sich nicht als lineare, technodeterministische oder gar teleologische Abfolge, sondern als unregelmäßige Akkumulation der verschiedenen Gesellschaftssorten, die sich heute überlappen und mit den neuesten Entwicklungen von Logistik und Algorithmik, von Datensammlung und -durchquerung, von sozialen Medien und Finanz-Derivaten in wieder neuer Weise das Maschinische modulieren.

„Selbstfahrende Autos“ sind sicherlich auch technische Apparate, aber vor allem sind sie Maschinen. In der tautologischen Formulierung des selbstfahrenden Auto-Mobils liegt ein fast verzweifeltes Insistieren auf die magische Möglichkeit der Selbstbewegung. Es ist aber vor allem der Austausch, die Kommunikation, die Konnexion durch (Daten-)Ströme, der (Daten-)Verkehr, die das Verhältnis von Körpermaschinen, Dingmaschinen und sozialen Maschinen auch im Straßenverkehr zum Maschinischen machen. Menschen haben nach wie vor das Gefühl der souveränen Steuerung (z.B. wenn sie eines der durchschnittlich viereinhalb Ziele angeben, die sie täglich anpeilen), zugleich steuert und fügt sich alles, egal ob Ding, Mensch oder sozialer Verkehr, im maschinischen Tracking selbst: keine Einschließung mehr, sondern Selbstführung aller Komponenten in einem offenen Milieu, die sich möglichst elegant aneinander vorbei bewegen und je nach Identifizierung des Einzeldings (von der Kennzahl des Autos über die maschinische Gesichtserkennung seiner InsassInnen bis hin zu den massenhaften Bewegungen von unterschiedlichen Fahrzeugen) einer Mannigfaltigkeit von Öffnungen und Schließungen fügen.

Das Konzept des maschinischen Kapitalismus2, das keine neue Phase des Kapitalismus, allerdings eine zunehmende Bedeutung des Maschinischen im zeitgenössischen Kapitalismus anzeigt, impliziert keine weitere Version der dichotomen Bevorzugung von Objekten (über Subjekte), Tieren (über Menschen), Materialitäten (über das Immaterielle), Realismen (über Diskurse). Es geht vielmehr um die Flüsse, die durch diese Dichotomien und durch die Einzeldinge hindurchgehen, Datenflüsse, Ströme, Wünsche, Werden, Mitten, tanzende Verhältnisse, das Dazwischen der dividuellen Sozialität.

Maschinewerden der Geräte, Apparate, Anlagen. Wenn technische Apparate ins Spiel kommen, sind sie nie nur technische Apparate, sondern vor allem Komponenten des maschinischen Verkehrs. Insofern ist die Vorstellung der Maschine, die in den Menschen eindringt, schon falsch: Herz- oder Hirnschrittmacher zum Beispiel sind mehr als technische Apparate, die als nichtmenschliche Fremdkörper den Menschen zur Maschine machen, eine elektronische Fußfessel ist mehr als die Ersetzung von Gefängnismauern, die Chips, die zur Ortung von Tieren dienen, sind mehr als die Hundeleinen der Kontrollgesellschaft. Human Enhancement ist mehr als die Verbesserung der Menschen durch technologische Artefakte, Prothesen, Implantate, neurale Interfaces, Operationen und Substanzen. In all diesen Beispielen ist das Maschinische nicht einfach ein Mittel der Menschen, sondern eine spezifische Verhältnissetzung, zunächst ein Verhältnis des Anhängens.

In vielen Situationen hat es den Anschein, als würde nicht die Maschine in die Menschen eindringen, als zöge es vielmehr die Menschen „in die Maschine“. Ich bin nicht nur abhängig von einer mir äußerlichen „Maschine“, die mich überwacht und unterwirft, ich möchte auch Teil der Maschine werden, an ihr anhängen. Maschinische Dienstbarkeit ist insofern etwas ganz anderes als die Unterwerfung unter die Maschine. Der Sog der Maschinen, ihre Anziehungskraft, hat zweifellos zu neuen, auch sehr körperlichen Begehren geführt. Es geht um Verhältnisse des Anhängens, des Streifens und des Umhüllens. Materielle Größe spielt dabei keine Rolle: Egal ob ein kleines Mobiltelefon oder die ausgedehnten Anlagen der NSA – relevant ist nur das Anhängen an die Netze, die Clouds, die Maschinen. Anhängen, an der Maschine hängen, bedeutet auch, von der Maschine abhängig zu sein. Das Begehren etwa, online zu sein, hat zugleich Aspekte von dauernder Erreichbarkeit, von Internet-Sucht und von Apparate-Fetischismus. Doch letzterer ist mehr als nur Distinktionsmittel, Konsumzwang oder einfach die Lust auf die neuesten Geräte und Gadgets. Es geht inzwischen auch um den Drang nach immer stärker haptischen Techniken des Streifens, Streichens, Streichelns. Über Screens streichen, damit die Screens streifen, die Bildschirme zugleich de- und reterritorialisieren, das entspricht zweifellos ebenso einer neuen Kulturtechnik wie der beschleunigte Daumen der Generation Smartphone. Das Streichen/Streifen der Bildschirme hat auch etwas von einer haptischen Differenzierung, die weit über das Buchstaben-Identifizieren der SMS-, Mail- oder Social-Media-Nachricht am Smartphone hinausgeht. Über den Bildschirm zu streichen heißt nicht nur das Gerät zu streifen, sanft zu kerben, sondern sich auch affektiv anzunähern, zu streicheln. Insoweit dieses ephemere Streicheln dieselbe Bewegung an derselben Stelle ausführt, entspricht es einer Reterritorialisierung. Insoweit es nicht dieselbe Stelle zweimal streichelt, sondern über die Oberflächen der virtuellen Inhalte scrollt, sie streift, über sie drüber streichelt, ist es Deterritorialisierung.

Je differenzierter die materiellen Näheverhältnisse, das Anhängen an die Maschinen sich entwickelt, desto mehr hat es den Anschein, als würden die Menschen „in die Maschine hinein“ wollen. Doch „in die Maschine hinein“ ist eine ähnlich falsche Vorstellung wie die „in den Menschen eindringende Maschine“. Vielleicht ist es eher eine unendliche Annäherung an die technischen Apparate, die den materiellen wie immateriellen Verkehr unendlich ausdifferenziert. Vom Eintippen der Buchstaben auf der Tastatur zum Streichen über die Bildschirme ist es ein relativer kleiner Schritt, der in Zukunft noch einigermaßen ausgebaut werden könnte. Sprachsteuerung ist hier ein potenzieller Modus der ausgeweiteten Fügung, oder auch andere Körperteile als Finger und Hände. Die Füße etwa können wie bei einer Nähmaschine, einem Schlagzeug, einer Orgel oder einem Wah-Wah-Pedal mitspielen, der ganze Körper – wie das Soundgefüge eines Alleinunterhalters, singend, mit der Trommel auf dem Rücken und dem Tambourin unter dem Fuß.

Große Tast-Bildschirme von Desktops lösen die Bedienung durch die Tastatur ab, und dennoch werden Notebooks, Pads, Smartphones heute noch herumgeschleppt, als personalisierte Produktionsmittel, Fetische, Gadgets. Zukünftige maschinische Environments lassen sich vielleicht eher in der Logik der Umhüllung als in jener des Anhängens und der körperlichen Berührung denken. Die meisten Daten befinden sich, ob gewollt oder nicht, ob gewusst oder nicht, ohnehin schon zu großen Teilen in den Wolken. Es fehlt also nur der allgegenwärtige Zugang an die Datenzapfsäulen, an die man sich ohne weitere Vermittlung allerorts anhängen kann, oder, einen Schritt weiter: der tendenziell keineswegs körperlose, aber unwahrnehmbare Umgang mit den Daten-Wolken. Touch-Screens treiben die Entwicklung der Apparate vom sichtbaren Anhängen in die Richtung eines zunehmend unsichtbaren Umhülltseins. Maschinische Sensorik muss nicht über die Berührung der Apparate funktionieren. Gesten, Gebärden, Körpersprache statt Google Glass und Data Gloves. Vielleicht ist das Theremin das Instrument der Zukunft. Keine äußerliche, sichtbare Umhüllung, die allumfassend alles umhüllt, sondern eine unendliche (Selbst-)Umhüllung jedes einzelnen, zugleich Zugriff auf das maschinische Environment, soweit die Kontrolle der Chiffren ihn zulässt.

Geistermusik, berührungslos erzeugte Glissandi, durch die Luft gleitende Hände und Arme, elektromagnetische Felder, bewegt von den elektrischen Schwingungen des Körpers. Gleitende, fließende, schwebende, fliegende Musik. Wie Leon Theremin vor fast hundert Jahren begann, sein Instrument zu spielen, so beginnen die Heutigen die technischen Instrumente, die Apparate, die Anlagen zu spielen, die sie umgeben, umlagern, umhüllen, die Environments und Surrounds, und werden durch sie gespielt. Auf beiden Seiten ist hier einige Virtuosität am Werk. Doch wie gesagt, es geht nicht um instrumentelle Verhältnisse, um Maschinen als Werkzeug und Mittel der Menschen oder umgekehrt. Wir spielen keine Instrumente, sondern spielen vielmehr mit ihnen, wie Kinder mit anderen Kindern, mit Dingen und Maschinen spielen.

In den 1970er Jahren spielten manche Kinder mit ferngesteuerten Autos, Booten und Fliegern. Das waren wunderbare Tools, um vor allem Jungs schon in frühem Alter Maschinensteuerung beizubringen. Der in jedem Fall zu vermeidende Overkill war das Entfernen des Boots/Autos/Fliegers aus der Reichweite der Fernsteuerung. Fünfzig Jahre später wird es darum gehen, alle Einzeldinge, nicht mehr nur die Apparate, sondern auch die Menschen, in der Reichweite der Fernsteuerung zu halten, sei es im Gaming, im Straßenverkehr oder im Alltag. Nur dass die Fernsteuerung fehlt, und auch der Mensch, der sie bedient. Ebensowenig wie das Auto-Mobil sich wirklich selbst bewegte, so wenig wird das selbst-fahrende Auto selbst fahren. Wo die Menschen einst sich der Mühe entledigten, so entledigen sie sich nun der Steuerung. Maschinische Selbst-Führung bedeutet ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Komponenten, die sich fügen, zu einem Gefüge fügen. Selbst-Fügung und Fügung des Gefüges.

Und nicht nur die Straßen wollen maschinisch geregelt werden, auch die Luftwege bedürfen zunehmend maschinischen Engagements. Während die Politik bei der Beschaffung von Drohnen fast zu auffällig darauf insistiert, dass die Drohnen von Menschen gesteuert würden, lässt sich mit Stefano Harney und Fred Moten sagen: „Drohnen sind nicht unbemannt, um amerikanische Piloten zu schützen. Sie sind unbemannt, weil sie für amerikanische Piloten zu schnell denken.“3 Die dys- und pan-topische Fantasie der Logistik ist darauf aus, den Menschen als „kontrollierenden Agenten“ so weit wie möglich zu beschränken, den Waren- und Waffenfluss von menschlicher Zeit und menschlichem Irrtum zu befreien. Das heißt nicht, dass die Menschen überflüssig würden: Sofern sie diese überleben, werden sie etwa weiterhin die Kollateralschäden von Drohnen erklären müssen. Ihre „Signaturschläge“ haben es an sich, nicht immer völlig fehlerlos zu sein. Die Drohne bringt den Tod oder die Post von Amazon, aufgrund von algorithmisch produzierten Risiko- oder Poten­ziali­täts­profilen. Sie verspricht vor allem Präzision, über menschliche Genauigkeit hinaus. Gezielte, smarte, verlässliche, schadensminimierende Präzision im maschinischen Environment. Die Drohne ist das maschinische Tier der Gegenwart, und irgendwann auch sich selbst entfaltend, sich selbst vervielfältigend.


Facebook: Selbstzerteilung und Bekenntniszwang

„Facebook ermöglicht es dir, mit den Menschen in deinem Leben in Verbindung zu treten und Inhalte mit diesen zu teilen.“4

„Man muss schon dieser inneren List des Geständnisses vollkommen auf den Leim gegangen sein, um der Zensur, der Untersagung des Sagens und Denkens eine grundlegende Rolle beizumessen; man muss sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Macht machen, um glauben zu können, dass von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt.“5

Der Jesus der Bergpredigt leitet an zur maschinischen Fügsamkeit und zur Selbstfügung, zur bekenntnishaften Mit-Teilung und zur Selbstzerteilung. Das ist es, was Facebook auch ist: neben einem Mittel zur Selbstpräsentation, Kommunikation und manischen Zurschaustellung des Lebens, neben einem Brennpunkt zukünftiger Social-Media-Blasen, neben einem Tool für Facebook- und Twitter-Revolutionen, neben einem unlöschbaren Gedächtnis von Millionen: ein Medium des Bekenntnisses, ja, des Bekenntniszwangs, und in diesem Sinn ein Medium nicht bloß der Mit-Teilung, sondern auch der Selbst-Zerteilung.

Facebook ermöglicht es mir, diese maschinische Praxis der Teilung weiter zu optimieren. Jenes „ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation“, „sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt,“ ist bei Facebook bestens aufgehoben. Mit einer Einschränkung: Was nicht oder nur unter gewissen Bedingungen zutrifft, ist der äußere Zwang, der im Wort „müssen“ steckt. Es dreht sich vielmehr alles um maschinische Dienstbarkeit, ein Bekennen-Wollen, ein Begehren der Mit-Teilung.

Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit beschreibt Foucault anhand der Materialien zu medizinischen Prüfungen, psychiatrischen Untersuchungen, pädagogischen Berichten und familiären Kontrollen der Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert eine neue Machtform, die vor allem auf unterschiedlichen neuen Formen von Bekenntnis und Geständnis beruht: „sie verlangt einen Austausch von Diskursen durch Fragen, die Geständnisse abzwingen, und durch Bekenntnisse, die die Verhöre übersteigen.“6 Gegen das, was Foucault die Repressionshypothese nennt, bringt er die Intensität des Geständnisses ins Spiel, das unhintergehbare Verhältnis von Macht und Lust: „Die Macht funktioniert als eine Sirene, die die Fremdheiten, über denen sie wacht, heranlockt und zum Appell ruft.“7

Die christliche Moral verbindet als Pastoralmacht im Bekenntnis-Zwang die Geständnispflicht mit dem Begehren zu gestehen. Sie kann sich auf eine lange Genealogie der Geständnispraktiken seit dem Hochmittelalter berufen. Seit diesen mittelalterlichen Umwälzungen hat sich die Macht als zum Geständnis lockende Sirene vervielfältigt, sie lockt von allen Seiten, sie streut ihre Klänge aus über alle gesellschaftlichen Strata. Sie lockt nicht nur damit, dass ich mich im Geständnis erleichtere, sondern auch mit der Verheißung, dass ich gerade in deren Veröffentlichung meine innersten Geheimnisse entziffern könnte: „Die Verpflichtung zum Geständnis wird uns mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt, sie ist uns so tief in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen ‚Anspruch‘ hegte als den, an den Tag zu treten […].“8 Das ist die zentrale Aussage der Bekenntnis-Theorie Foucaults. Die Idee einer Wahrheit, die „im Geheimsten unserer selbst“ nur darauf wartet, ans Licht zu treten, begründet auch die heute ubiquitäre Propaganda der Transparenz. Ihr vorrangiges Verfahren ist die Verbindung eines identitären Selbst und seiner Wahrheit, die geradezu aus dem Dunkeln treten muss; wenn ihr das nicht gelingt, kann es nur daran liegen, dass eine Macht, eine Gewalt, ein Zwang sie fesselt, von dem sie sich befreien muss. ­Umkehr der Perspektive auf die Macht: Statt eine mannigfaltige Macht am Werk zu sehen, die mittels Anrufung zum Bekennen fungiert und ständig Begehren zu bekennen produziert, wird jede Art der Macht als homogener Block der potenziellen Unterdrückung des Bekenntnisses verstanden. Das Bekenntnis, im Gegensatz dazu, hat aus dieser Perspektive befreiende Wirkung, es verhilft aus dem Schweigen, setzt die Wahrheit frei. Die Teilung nimmt hier vor allem die exzessive Form der bekennenden Mitteilung und Veröffentlichung an. Die geraubte Wahrheit, das bisher der Öffentlichkeit Vorenthaltene, De-privatisierte will ans Licht.

Vor dem Hintergrund dieses Appells zur Ermöglichung der Freiheit des Bekenntnisses gerät das Private zunehmend in die Defensive. Privatheit taucht als Begriff allenfalls noch in der begrenzten Bedeutung des Datenschutzes auf. Im Bereich der Social Networks erwächst hier vor allem ein Diskurs über die illegitime Speicherung persönlicher Daten und den drohenden Verlust von privacy. privacy soll eine Antwort auf die Frage geben, wie diese Daten vor dem Zugriff anderer geschützt werden: zunächst vor der staatlichen Repression gegenüber Einzelnen, dann aber auch vor der Inwertsetzung der akkumulierten persönlichen Daten durch kommerzielle AkteurInnen. Angesichts des zunehmenden Überhandnehmens von staatlichen Überwachungsprogrammen wie auch des kommerziellen Missbrauchs persönlicher Daten sind das ernstzunehmende Probleme;­ es sind aber zugleich auch kaum variierte Wiederholungen jener einseitigen Verfallsnarrative, wie sie in immer neuen Kombinationen entweder den Verfall des Öffentlichen oder jenen des Privaten beklagt haben. Und diese Narrative unterschreiten oft selbst das Niveau der alten, überwachungsgesellschaftlichen Science-Fiction-Motive aus 1984 oder Brave New World.

Jenseits der Datenschutz-Diskurse oder vielmehr parallel zu ihnen gewinnt die „innere List des Geständnisses“ eine neue Brisanz. Was heißt es, wenn ein Begehren um sich greift, das keineswegs den Verfall des Privaten beklagt, sondern gerade mit der freiwilligen Aufgabe jeder Privatheit zu kokettieren scheint? Was heißt es, wenn in Social Media die Leute nicht einfach nur gezwungen sind, ihre Daten zu veräußern, und das sogar für die ökonomischen Zwecke anderer, sondern wenn sie geradezu einen Zwang zur De-privatisierung entwickeln? Am Beispiel Facebook: Die problematischen Aspekte des Geschäftsmodells Facebook liegen nicht nur in der Ausbeutung unbezahlter Arbeit, in der Identifizierung von NutzerInnen für WerbekundInnen oder in der Opazität der privacy-policy und der privacy-Einstellungen von Facebook. Die unterbelichtete Seite des Social Networking ist das Begehren, sich öffentlich mitzuteilen, seine Daten (mit-) zu teilen, sich selbst zu teilen.

Dieses neue Begehren nach „Selbstzerteilung“ in den Social Media beruht auf dem Drang ans Licht der virtuellen Sozialität, auf einer dringenden Notwendigkeit der Sichtbarkeit, die zusammenhängt mit einer neuen Vorstellung von Privatheit als Defizienz. Der Begriff des Privaten trägt freilich die Defizienz schon immer in sich, den Mangel, das Beraubt-Sein; in der Antike war es ein Mangel an Amt, ein Mangel an Öffentlichkeit, ein Mangel an Möglichkeit, politisch zu handeln. In der Sozialität von zeitgenössischen Social Media wird Privatheit allerdings eher deswegen zum Problem, weil sie Unsichtbarkeit, weil sie die Entkoppelung vom Lebensnerv der sozialen Netze impliziert. Felix Stalder beschreibt diese neuerliche Angst vor dem – nunmehr digitalen – Verschwinden als Kehrseite des Versprechens authentischer Kommunikation in sozialen Netzwerken: „Um im space of flows Sozialität zu erzeugen, müssen die Leute sich zunächst sichtbar machen, das heißt, durch expressive Akte der Kommunikation ihre Repräsentationen schaffen. […] Es gibt zugleich negative und positive Aspekte, die eine/n antreiben, sich selbst in dieser Art sichtbar zu machen: das drohende Unsichtbarwerden, ignoriert und übergangen zu werden auf der einen Seite, und andererseits das Versprechen, ein soziales Netzwerk zu schaffen, das wirklich die eigene Individualität ausdrückt.“9 Statt also den Kern des authentischen Selbst in der Privatheit zu vermuten und dort zu belassen, wird es in der expressiven Praxis des Geständnisses im sozialen Netzwerk gesucht und produziert, um zugleich auch die Gefahr der Entbindung, der Disjunktion von den lebenserhaltenden sozialen Netzen zu bannen. Die allseits aktive Aufrechterhaltung der maschinischen Verbindung erhält die Infrastruktur für die manische Bekenntnispraxis, und sie schützt zugleich vor einem Abgleiten in die dunklen Gefilde nicht oder wenig sichtbarer, und damit gefährlicher oder einfach nicht verwertbarer, weil für die Inwertsetzung nicht vorhandener Aktivitäten.

Nicht mehr eine kleine Anzahl von Autoritätspersonen sind die Adresse des maschinischen Geständnisses, denen in einem dezidiert persönlichen Verhältnis gestanden wird, sondern eine zunehmend größere, oft zur Unüberschaubarkeit tendierende Anzahl von friends. Dieses Verhältnis ist jedoch nur selten im traditionellen Sinne sozial – wenn doch, dann erscheint die Sozialität oft in der inversen Form des Shitstorms oder anderer Schmähungen im Netz, als asoziale Sozialität. Das maschinische Geständnis bleibt im Modus der Führung zwischen dem selbstidentifizierenden Selbst und seiner Wahrheit, vor der opaken Wand eines sozialen Beichtstuhls, Facebook. Foucault konnte Facebook zwar nicht kennen, hat seine Funktionsweise aber schon recht gut beschrieben: „Seine Wahrheit wird weder von der erhabenen Autorität des Lehramts noch von der Überlieferung verbürgt, sondern durch die Bindung, die wesentliche diskursive Verbindung des Sprechenden mit dem, wovon er spricht. Umgekehrt liegt die Herrschaft nicht mehr bei dem, der spricht […], sondern bei dem, der lauscht und schweigt; nicht mehr bei dem, der weiß und antwortet, sondern bei dem, der […] nicht als Wissender gilt.“10 Die nicht wissende, unüberschaubare und schweigende Mehrheit der friends beherrscht die Szene. Deren Teilen, wie es im Facebook-Slogan angerufen und als möglichst reibungsfreies beschworen wird, besteht darin, auf einen Knopf zu drücken, im Anklicken eines Links, des Share-Buttons. Die Wirkung des Wahrheitsdiskurses ist dagegen eher bei denen zu finden, die etwas oder alles über sich gestehen.

Auf Nietzsches Skala vom Zwang über den „freien Gehorsam“ zum „Instinkt“ ging die Bewegung bis hierher schon ziemlich weit in die Richtung dessen, was Nietzsche „Instinkt“ nennt, was er erstens mit Gewöhnung, also Naturalisierung und Normalisierung, und zweitens mit Lust verbindet. Diese zwei Aspekte sind in der Praxis von Facebook direkt miteinander verkoppelt: Die Gewöhnung an das maschinische Anhängen verkettet sich mit dem maschinischen Begehren des totalen Teilens. Die „Teilung“ funktioniert für Facebook nicht – oder nicht nur – im Sinne der unerlaubten Inbesitznahme persönlicher Daten durch staatliche und ökonomische AkteurInnen, sondern im Begehren der Datenproduzierenden nach Dividualisierung, in einer Art des „frei-gehorsamen“, „freiwilligen“ Teilens, der selbst-bestimmten Selbst-Zerteilung. Facebook basiert auf der Anrufung der befreienden Wirkung des Geständnisses, auf der Figur der Privatheit als zu vermeidender Defizienz und darauf, dass das maschinische Geständnis nicht erzwungen ist, sondern Freiwilligkeit, Begehren, Lust, mit Nietzsche „Eitelkeit“ impliziert.


Daten-Mengen.
Neue Tonleitern des Dividuellen

Nietzsches Blick bleibt, selbst in der Kritik des Allzumenschlichen, ein Blick auf den Menschen, vor allem den einzelnen Menschen. Seine These der Selbstzerteilung des Menschen in der Moral verharrt – wie im Wesentlichen auch die Foucault‘sche Geständnisethik – bei der Frage nach der Fügung der Individuen. Was aber sozial/mediale Technologien wie Facebook tun, lässt sich weder allein mit Blick auf die Menschen noch auf das Individuum und sein Verhältnis zu einem Kollektiv erklären, und auch nicht mit einer Unterwerfung von menschlichen oder nicht-menschlichen Individuen unter Maschinen. Es geht hier um das Maschinisch-Dividuelle selbst in einem wesentlich über die techno-medialen Apparaturen und das individuelle Begehren hinausgehenden Sinn.

Nietzsche hatte geschrieben: „In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.“ Doch es gibt kein Dividuum. Im starken substantivischen Sinn existiert „das Dividuum“ nicht: Wie in der philologischen Evidenz, in der das lateinische Wort nur selten, und selbst dann nur als schwaches, heteronomes Substantiv vorkommt, so macht es auch keinen Sinn, von „einem Dividuum“ oder „Dividuen“ zu sprechen. Aus Individuen können selbst „in der Moral“ keine Dividuen werden, wohl aber in und durch Dividualisierung sich fügende, fügsame, gefügige Individuen. „In der Moral“ entstehen immer neue Formen der Dienstbarkeit, der Passförmigkeit, der Anpassung, immer neue „gefügige Charaktere“, doch diese Dienstbarkeit erfasst, sofern sie auf dem Niveau des Individuums bleibt, das Dividuelle nicht.

Über hundert Jahre nach Nietzsche setzt Gilles Deleuze­ mit einer ähnlichen Formulierung um den Begriff des Dividuellen den Übergang vom Disziplinar- zum Kontrollregime an. Er greift damit Überlegungen seines Freunds Michel Foucault auf, mit dem zusammen er in den frühen 1960er Jahren die französische kritische Gesamtausgabe Nietzsches verantwortet hatte. Nach Deleuze’ Ausführungen im „Postskriptum über die Kon­troll­gesellschaften“ hat das Disziplinarregime zwei Pole, an dem es gleichermaßen interessiert ist. Es ist vermassend und individuierend, konstituiert die Masse als Körper und modularisiert ihre Glieder als Individuen – ganz nach Nietzsches Verhältnissetzung von Moral und sich selbst zerteilendem Individuum, ganz nach Foucaults Interpretation der Regierungsweisen der pastoralen Macht: omnes et singulatim. Deleuze beschreibt dieses gleichmäßige Interesse der pastoralen Macht an seinen beiden Polen so: Das Disziplinarregime ist am individuellen Pol durch die Signatur, die Unterschrift, die eindeutige Angabe der dadurch identifizierbaren AutorIn geprägt, am Massen-Pol durch die Zahl oder Kennnummer, die die Position des Individuums in der Masse identifiziert. Es ist dieses keineswegs gegensätzliche, sondern wechselseitige Verhältnis von „Einzig-Einem“ und „All-Einem“, das in Tausend Plateaus exemplarisch den Kompositionen der deutschen Romantik zugeordnet wird, in dem die Kräftegruppierungen zwar völlig diversifiziert sind, das aber nur als „zum Universellen gehörende Beziehungen“11. Der romantische Held handelt als subjektiviertes Individuum unter den Bedingungen eines orchestralen Ganzen. Immer omnes, alle als Eines, All-Eines, Orchester – et, und – singulatim, auf das All-Eine bezogene Einzig-Eine, Einzelstimmen.

Ein ganz anderes Regime ist jenes, in dem die Masse durch Gruppenindividuierungen individuiert ist und sich nicht auf die Individualität der Subjekte und die Universalität des Ganzen reduzieren lässt – in Tausend Plateaus beschreiben Deleuze und Guattari dieses ganz andere Verhältnis von (nun nicht mehr All-Einem, sondern) dividuellem Masse-Einem und Einzig-Einem mit den musikalischen Beispielen von Debussy, Mussorgsky, Bartok, Berio. Hier wird die Masse nicht nach Personen, sondern nach Affekten individuiert, und insofern versteht sich das Einzig-Eine nicht individuell und auf das Universelle bezogen, sondern singulär. Die Schattenseite dieser „neuen Tonleiter des Dividuellen“12 entwickelt Deleuze ein Jahrzehnt nach Tausend Plateaus im „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ – und Nietzsche scheint noch durch Deleuze‘ Formulierung durchzuklingen:

„Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘.“13

Das Dividuelle (Deleuze verwendet anders als Nietzsche das Adjektiv dividuel) und die Banken also, wenn auch Banken weniger im traditionellen Sinn als Datenbanken. Doch nicht nur die Bank als von Schaltern, Angestellten und Erlagscheinen bevölkerter Ort scheint für heutige Ohren eigenartig überholt, wenn es doch um die Beschreibung von dividuellen Datenflüssen in den Kontrollgesellschaften geht. Selbst das Bild der Datenbank birgt noch viel zu viel von einem klar zu verortenden Territorium, einem Speicher-Platz, der von Menschen verwaltet, geordnet und bestimmt wird. Die Realität heutiger dividueller Datensätze, riesiger Akkumulationen von Daten, die auf unendliche Arten geteilt, wieder zusammen- und inwertgesetzt werden können, ist eine der weltweiten Ströme, der Deterritorialisierung und der maschinischen Erweiterung, auf den Punkt gebracht im Kürzel Big Data. Facebook braucht die Selbstzerteilung der individuellen UserIn ebenso, wie Nachrichtendienste nach wie vor individuelle Identitäten festhalten. Big Data ist dagegen weniger interessiert an Individuen, und ebenso wenig an einer Totalisierung der Daten, umso mehr dagegen an möglichst flottierenden und detaillierten Datensätze, die es dividuell durchqueren kann – als offenes Immanenzfeld mit potenziell unendlicher Extension. Die riesigen Datenmengen wollen einen Wissenshorizont bilden, der die ganze Vergangenheit und Gegenwart verwaltet, und der damit auch die Zukunft einfangen möchte.

Die Datensammlung durch ökonomische und staatliche AkteurInnen hat, vor allem im Geheimdienst-, Versicherungs- und Bankenwesen, eine lange Tradition, doch mit der Maschinenlesbarkeit und maschinischen Verarbeitung des Datenmaterials bekam sie völlig neue Qualität. Diese Qualität betrifft nicht nur credit rating agencies oder Nachrichtendienste, sondern alle Bereiche des vernetzten Alltags, alle Teildaten von individuellen Leben, etwa über Kinder, Scheidungen, Schulden, Eigentum, Konsumgewohnheiten, Kommunikationsverhalten, Reisegewohnheiten, Internet-Aktivitäten, Bewegungen im realen Raum, Aufenthaltsorte, Gesundheit, Fitness, Ernährung, Kalorienverbrauch, Zahnpflege, Kreditkartenbelastungen, Geldautomaten-Nutzung, um nur einiges zu nennen. Kühlschränke, Backöfen, Thermostaten, Smart-guide-Zahnbürsten, intelligente Toiletten, vernetzte Büros, vernetzte Küchen, vernetzte Schlafzimmer, vernetzte Badezimmer, vernetzte WC-Anlagen – alles steuerbar über das Smartphone, alles abrufbar über die Cloud. Potenziell können diese maschinischen Daten etwa zur Logistik der individuellen Ding-Bewegungen kombiniert und nach dividuellen Logiken zugänglich gemacht werden.

Um diese dividuelle Durchquerung, Teilung und Rekombination von Daten möglich zu machen, braucht es die Mitarbeit derer, die früher KonsumentInnen genannt wurden. Die Teilung als Partizipation meint den möglichst umfassenden freien (vor allem im Sinn von unbezahltem) Datenaustausch, nicht nur das Teilen von existenten Daten, sondern auch das Produzieren von neuen. Die Daten-Inwertsetzung spielt sich auf dem Terrain der Externalisierung der Produktionsabläufe und der Aktivierung der KonsumentInnen ab, wie sie seit den 1990er Jahren in allen ökonomischen Bereichen intensiviert wurde. crowds, Mengen, verstreute Massen, ihre Existenz- und Lebensweisen werden jenseits von bezahlter Arbeit eingefangen, eingespannt, angeeignet und verwertet. Scoring, Rating, Ranking, Profiling. Wenn die KonsumentInnen aktiviert werden und mit ihrer Aktivität Wert erzeugen, muss man sie nicht bezahlen. Das Open-Source-Modell der Entwicklung von Programmen durch die crowd hat sich inzwischen als Geschäftsmodell etabliert und auf alle wirtschaftlichen Sektoren ausgebreitet. Freie Arbeit in freier Assoziation, aber zugunsten der Unternehmen der New Economy.

Und statt dass der dadurch produzierte Mehrwert in höhere Löhne investiert wird, hat die „freie Arbeit“ der freischaffenden DatenmaklerInnen genau das Gegenteil zur Folge, nämlich die weitere Abwertung und Abschaffung bezahlter Arbeit. Aus der herrschaftlichen Ökonomie der Partition wird eine nicht minder herrschaftliche, zugleich aber durch Selbstregierung geboostete Ökonomie des Teilens. Eine sharing economy, die das Minus der Gemeinschaft aus der christlichen Genealogie in den gegenwärtigen maschinischen Kapitalismus hebt. Sparaufrufe, Degrowth-Zwang, Austerität mit anderen Mitteln.

Die Ökonomie des Daten-Teilens verwertet nicht nur automatisch an- und abfallende Daten, sie regt auch jenseits aller beruflichen Tätigkeit zur Produktion von Daten an. Das lässt sich in letzter Zeit gut in den Gefilden der physischen Selbstvermessung und Buchführung über Körperdaten verfolgen. In meinem altmodischen Format des Kieser-Trainings bleibt diese Buchführung noch auf ein analoges Verfahren beschränkt. Die Maschinen erscheinen als eher nüchterne und zumindest nicht sichtbar vernetzte Apparate zur Körperertüchtigung, die möglichst rational auch in ihrer Funktion und Wirkung erklärt werden und konzentriertes individuelles Training ohne Störung ermöglichen. Doch die Maschine ist nicht nur die mechanische Anlage, in die ich mich einspanne, sondern vor allem auch das Brett, in das ich die Tabelle einspanne, auf der ich meine kleinen Fortschritte notiere. Ob es sich um Fort- oder Rückschritte handelt, erhöht die Spannung, den Druck, das Begehren. Es kommt vor, dass ich im Begehren des Anhängens, Eingespanntseins in die Maschinen heißlaufe. Die Selbstzerteilung funktioniert hier schon gut, die Datenteilung allerdings noch nicht.

Das Zusammenwirken der Selbstvermessung von Individuen einerseits und der Produktion dividueller Körperdaten andererseits blieb der quantified-self-Bewegung vorbehalten. Während die Bekenntnis-Techniken der Selbstregierung in Social Media vor allem diskursiven Verhältnissetzungen entsprechen, die ihre quantitative Repräsentation in der Anzahl der Likes abbilden, ist die permanente Vermessung des Selbst direkt und einfach als Produktion von quantitativen Daten zu verwerten. Zunächst geht es zwar im quantified-self um eine möglichst permanente Selbstbeobachtung, die gemeinsam mit Bekenntnisliteratur und life-logging ein Ganzes ergeben. Diese maschinische Verbindung der körperlichen und diskursiven Selbsttechniken ist wahrscheinlich noch relevanter als die der Abstammungslinien, die die einzelnen Techniken mit ihren historischen Genealogien verknüpft: das quantified-self mit dem alten Wachstums-Maßstab am Türstock, den Ergebnislisten des Abwiegens auf der familiären Heim-Waage und anderen klassischen Körperprotokollen, das life-logging mit dem Schreiben von Logbüchern, Tagebüchern, Reisetagebüchern und anderen Protokollen. Doch eine weitere Kombination treibt die Verwertbarkeit auf die Spitze: das Einspeisen der quantitativen und qualitativen Daten in die sozialen Netze, die mit der Schnelligkeit ihres Feedbacks der individuellen Privatheit der Körperdaten und den diskursiven Narrativen Aspekte von Sozialität und sozialer Kontrolle hinzufügen.

Eine weitere Zone der Expansion von dividuellen Daten ist jene der Suchmaschinen. Das, was gesucht wird, ist im Einzelnen vielleicht nicht so interessant, doch die Akkumulation von Such-Daten bestimmt sowohl die individuellen wie die dividuellen Formen der Datenverarbeitung. Maschinische Suchvorgänge führen grundsätzlich ins Wahrscheinliche, Mehrheitlich-Dominante, Normalisierte, und sicherlich ins ökonomisch für die Suchmaschinen Lukrative. Google und Co. schneiden die Antworten auf Suchanfragen einerseits individuell zu (geografische Position, Sprache, individueller Suchverlauf, persönliches Profil etc.), andererseits ihren kommerziellen Interessen entsprechend. All die individuellen Profile werden mit der Zeit als Teil von Big Data immer mehr wert. Aber im Prinzip ist die Suche noch immer zu menschlich determiniert und damit gefährlich unkontrolliert. Deswegen erfolgt gerade ein massiver Übergang zum maschinischen Vorschlagswesen, das es den Konsumierenden erspart, sich auf einen halbwegs unbestimmten Suchvorgang einzulassen. Bevor die User noch auf die Idee kommen, dass sie suchen könnten, können sie mit Vorschlägen rechnen. Nicht immer werden diese Vorschläge den KundInnen von völlig automatisierten Systemen unterbreitet: Algorithmen arbeiten oft mit Menschen zusammen, um Feinabstufungen und unendliche Kombinationen von Möglichkeiten aufgrund der bisherigen Gewohnheiten nicht nur der EinzelkundInnen, sondern ihrer sozialen und territorialen Umgebungen zu entwickeln. Resultat sind unangefragte individualisierte, und dennoch passende Buch- und andere Kaufvorschläge von Amazon, Reisevorschläge von Air Berlin, Filmvorschläge von Netflix, und auch diese Spezialisierungen lösen sich zusehends auf.

Der gefügige Charakter ist empfänglich für die maschinischen Vorschläge. Die maschinische Kontrolle weitet sich aus, soweit sie kann: alles wird vorgeschlagen, möglichst keine offenen, unvermessenen Suchbewegungen mehr. Doch selbst die Grenze zwischen dem Messbaren und dem Unmessbaren ist nicht stabil. Die Messlatten wollen immer mehr ins Unmessbare reichen. Nicht nur das Messbare soll gemessen werden, sondern möglichst viel Unmessbares soll in den Bereich des Messbaren verschoben werden. Das ist das unendliche Begehren der modulierenden Datensammlung: Nicht nur die Kontrolle über die vermessenen und messbaren Territorien zu halten, sondern einzudringen in unkontrollierte, bisher nicht begehrte Gefilde, diese möglichst genau und allumfassend zu vermessen: weiße Flecken im realen und virtuellen Raum, Videos, die bis jetzt niemanden interessierten, Internetlinks, die noch nie angeklickt wurden.

Die Regierung der Zahl, der Messlatte, des Eichmaßes kommt an ihre Grenzen, und deswegen ersetzt im Regime der Kontrolle die Chiffre das polare System von Signatur und Zahl: Zeichnen sich Disziplinar-Regime nach Deleuze durch die Identifikation und Zählung von individuellen Körpern und Massen-Körpern aus, so ist die Signatur der Kontrollgesellschaft die „Chiffre eines ‚dividuellen‘ Kontroll-Materials“.14 In einer Geschichte von Guattari, deren Plot Deleuze nicht als Fiktion deutet, wird eine Stadt ausgemalt, in der die Dystopie der gated community überwunden scheint. Die Stadt ist nicht durch Barrieren, Mauern, Absperrungen in erlaubte und nicht erlaubte Zonen aufgeteilt, sie ist durch eine Maschine moduliert, die die Position der einzelnen Elemente in einem offenen Milieu erfasst. Dank ihrer dividuellen elektronischen Karten können die Einzelnen, die jene Stadt bevölkern, ihre Wohnungen, Straßen, Viertel verlassen, aber – und das ist der Haken: „die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein“.15 Es handelt sich hier nicht etwa um technisches Gebrechen, die Fragilität des elektronischen Materials. Es sind gerade bestimmte Stunden oder auch nur Sekunden, in denen bestimmte Territorien unbetretbar werden. Die Ungültigkeit mag im Individuum begründet liegen, das die Karte bei sich trägt, dessen Signatur gewisse Bewegungen nicht zulässt. Doch vielleicht liegt das Problem der Gültigkeit auch gar nicht in der Identität und Zahl des Individuums, sondern etwa in auffälligen Bewegungen von Einzeldingen und Mengen, die die temporäre Schließung eines Territoriums verursachen. Insofern ist weniger die Karte selbst dividuell als jene maschinischen Gefüge, deren Chiffren Relais der Öffnung und Schließung steuern und die sich durch eine große Zahl von individuellen Karten als „dividuellem Kontroll-Material“ hindurchbewegen.


Ritornell 7, 1798/1853.
Undulismus

[: Irgendwo in Leningrad, September 2014, eine versoffene Spätsommernacht. Zu spät, um ein beliebiges Auto zu stoppen. Irgendwer ruft ein Taxi. Der Taxifahrer spricht englisch. Anstelle des Taxameters eine komplexe digitale Anzeige, Indizes, Grafiken. Tanzende Balken, wellenförmige Bewegungen, Display der dividuellen Linien. Er erklärt, dass er Taxifahrer nur nebenbei sei, beschleunigt auf 90 km/h und schlängelt sich etwas schleudernd durch die Stockungen des späten Verkehrs. Hauptsächlich beschäftige er sich mit Trading und Algo-Trading. Die Ausschläge am Display bewegen sich laufend, und er scheint sie irgendwie zu manipulieren. Zwei Promille Nebel verschwimmen mit den Wellen der Aktienkurse. Immer schneller, ich muss mich übergeben. Crash, Riss, Totalschaden.

Das Wellenhafte [ondulatoire], das kontinuierlich Mo­dulierende, das ständig sich Verformende des „Menschen der Kontrolle“ wiederholt einen seltenen Begriff aus dem Katalog des Hässlichen bei Karl Rosenkranz. In der Ästhetik des Hässlichen erscheint der Begriff am Beginn von Rosenkranz’ Überlegungen über die Arten der Formlosigkeit, hier vor allem der Amorphie, der ästhetischen Gestaltlosigkeit, der Abwesenheit jeder Begrenzung nach außen. Rosenkranz unterscheidet zwei verschiedene Arten, das Werden als Vergehen, das Übergehen der Unterscheidung ins Nichts zu konzeptualisieren: Während das grenzenlose Auf- und Abwogen der Welle in der Natur als schön angesehen werden kann, ist das Undulistisch-Wellenhafte in der Kunst ausschließlich negatives Sinnbild der Vernebelung, der Verweichlichung, der Kraftlosigkeit.

Das Undulistische ist die Mattigkeit der Begrenzung, wo diese als eine entschiedene notwendig wäre; die Unklarheit des Unterschiedes, wo er hervortreten müsste; das Unverständliche des Ausdrucks, wo er sich zu markieren hätte. Für Rosenkranz scheint eine klare Trennlinie zu bestehen zwischen der naturhaften Schönheit des Vergehens und einem hässlichen Werden der Gestaltlosigkeit, das er mit den Begriffen Nebulismus und Undulismus belegt: Das Vernebelte und mangelhaft Wellenförmige zeiht er der Verwaschenheit, des Verblassens und der Verstörung. Schon in Goethes Aufsatz „Der Sammler und die Seinigen“ von 1798 war der Begriff des Undulismus als Indiz für das Weichliche, Schwächliche, Biegsame erschienen. Undulisten sind wie nicht erwachsen werden Wollende, die in den Wellen spielen, Künstler wie Sammler, denen es an Ernsthaftigkeit mangelt: Sie wurden auch Schlängler genannt. Diese Schlängelei und Weichheit bezieht sich sowohl beim Künstler als Liebhaber auf eine gewisse Schwäche, Schläfrigkeit und, wenn man will, auf eine gewisse kränkliche Reizbarkeit. Solche Kunstwerke machen bei denen ihr Glück, die im Bilde nur etwas mehr als nichts sehen wollen, denen eine Seifenblase, die bunt in die Luft steigt, schon allenfalls ein angenehmes Gefühl erregt. Es fehlt ihnen Bedeutung und Kraft, und deswegen sind sie im allgemeinen willkommen, so wie die Nullität in der Gesellschaft.

Im Zeitalter des Maulwurfs hieß die Modulation Undulismus. Die Schlange war das Tier der Kontrollgesellschaften und die fließende Oberfläche der Welle im Wasser, an Land und in der Luft ein ausgezeichnetes Medium des Wellenreitens, Skatens, Skysurfens. Die Ströme des Algo-Trading beschleunigen, stocken, fahren zur Hölle … und setzen sich wieder neu zusammen, zerlegen sich, nehmen Geschwindigkeit auf. :]


Algorithmus, Logistik, Linie

Der Algorithmus spornt die alten Fantasien des Kapitals an, seine Abhängigkeit von der lebendigen Arbeit endlich zu beenden. Wenn nicht mehr ManagerInnen, BankerInnen, BrokerInnen, sondern Programme Kalkulationen und Berechnungen durchführen und auf solche Kalkulationen und Berechnungen reagieren, dann scheint es, dass nicht mehr die Menschen mit den Programmen operieren, sondern umgekehrt die Programme mit den Menschen. Nicht nur, dass diese sich den Maschinen unterordneten, dass sie Teile der Maschine würden wie die Arbeiter in Marx’ Maschinenfragment, sie sollen gänzlich weggefegt werden von der selbsterweiternden Fantasie ihrer Bildschirme. Das ist das Bild, das Stefano Harney in seinem Text „Algorithmische Institutionen und der Logistische Kapitalismus“16 von der erfindungsreichen und zugleich (selbst-)mörderischen Wirkung des Algorithmus zeichnet. In der Fantasie der Logistik sprechen die Dinge direkt mit den Dingen. Reduktion aller maschinischen Verhältnisse auf Ding-Beziehungen, Invertierung des Anthropozentrismus: Anstelle des Menschen wird das Ding essenzialisiert.

Harney beschreibt aber auch, wie lange schon vor der Ausbreitung im Finanzwesen, im industriellen Verfahrensmanagement der Körper, Maschinen, Instrumente, Lastwagen, Warenhäuser und Fabriken mithilfe des Algorithmus unsere eigenen Hände, unsere eigene Arbeit, unser eigenes Begehren eine Welt entstehen ließen, die eine Welt ohne uns zu werden wünschte. Operations Management ist die Wissenschaft und Praxis des Verhältnisses von variablem und konstantem Kapital in Bewegung, für das tägliche Leben vielleicht einflussreicher und heimtückischer sogar als das Finanzwesen. Das Fließband ist Ausgangspunkt aller Überlegungen dieses einst marginalen Bereichs der Management-Theorie. Und es ist das Fließband, auf Englisch assembly line, aus dem Harney auch seine zentrale Begrifflichkeit der line entwickelt. Entlang „der Linie“ tauchen ArbeiterInnen und Maschinen auf, indem sie die Linie „machen“. Damit wird ein komplexeres Puzzle zusammengesetzt als die Perspektive auf Maschinen, auf ArbeiterInnen oder auch das einseitige Verhältnis des Menschen zur Maschine. Es ist das maschinische Verhältnis von Menschen, Maschinen und allen anderen Komponenten zur Linie und ihrer Bewegung, das zählt. All diese Komponenten ziehen die Linie und werden von ihr gezogen, für die kontinuierliche Bearbeitung und Verbesserung des Prozesses indienstgenommen, nicht auf ein statisches Produkt hin, sondern auf die unaufhörliche Optimierung der Linie aus.

Die Logistik ist eine Subdisziplin des Operations Management, die Objekte bewegt, sich durch Objekte bewegt, sich durch Objekte hindurch bewegt. Die zeitgenössische Geschichte der Logistik beginnt mit der Containerisierung, mit den erweiterten Wertketten der globalen Märkte. „Logistik, Umkehrlogistik, user communities, und später relationship marketing wurden als Teil eines andauernden Prozesses verstanden, der andauernd verbessert werden konnte, bevor Inputs in die Fabrik gelangten, während sie in der Fabrik transformiert wurden und nachdem Outputs die Fabrik verlassen hatten.“17 Die Konzentration auf das Produkt, auf dessen Effizienz und Qualität, wird abgelöst durch eine Linie, die in Spiralen und Feedbackschleifen verläuft, deren frühere Linearität und Gerichtetheit neu gedacht werden muss: als eine nunmehr endlose, alineare Linie, eine Linie, die in alle Richtungen geht, eine Linie, die sammelt, ansammelt, versammelt, nicht mehr assembly line, sondern line of assembly.

Arbeiten auf/in/an/entlang der Linie impliziert in der mehrdeutigen Formulierung work on the line mehrerlei. on the line zu arbeiten bedeutet zunächst eine gewisse Gefährdung, einen ständigen Balance-Akt. Es spielt aber auch auf die digitale Vernetzung der online-Arbeit an. Und wenn die Fantasie der Logistik die Menschen zunehmend als auszuschaltenden Faktor sieht, bedeutet das keineswegs, dass maschinischer Kapitalismus ohne Menschen funktioniert. „Die Linie“ impliziert für die menschlichen Komponenten das erweiterte Fließband der fabbrica sociale, wie es die postoperaistische Theorie formuliert hat, der „sozialen Fabrik“, die sich zugleich auch als das verbindende Band einer dienstbar gewordenen Kooperation installiert hat. Christian Marazzi beschreibt diese Entwicklung in ihrem letzten Stadium als allumfassende Durchsetzung des Modells Google. Dieses pseudohorizontale Modell, das nicht mehr das Produkt, sondern die Beziehungen zwischen Produk­tion und Konsum ins Zentrum setzt, verbreitet sich auch in den gar nicht virtuellen Bereichen der Industrie und der Dienstleistungen. Es setzt – wie oben beschrieben – auf die Aktivierung der KonsumentInnen als AnwenderInnen, sogar „in der hypermateriellen Welt des Automobils“.18

Die line bezieht sich innerhalb der Unternehmen auch auf eine vertikale Linie, vor allem im Begriff der line managers, der Linienvorgesetzten. Die line managers haben, wie Harney schreibt, in „algorithmischen Institutionen“ hauptsächlich die Funktion, dienstbar die algorithmische Metrik zu bedienen. Selbst wenn das Wort Strategie an allen Ecken und Enden in den Unternehmen auftaucht, ist es in seiner Bedeutung des strategischen Handelns von ManagerInnen völlig ausgehöhlt. Statt wie früher strategisch vorzugehen, besteht die Aufgabe des Managements nun darin, die Fehleranfälligkeit und Langsamkeit menschlicher Entscheidung in der Führung möglichst zu vermeiden. ManagerInnen wissen buchstäblich nicht, was sie tun. Sie versuchen, die Linie in Bewegung zu halten, am Ende nur noch, sie zu exekutieren, um die algorithmische Institution nicht zu stören: „Typischerweise wendet eine solche Institution die algorithmische Metrik bis zu dem Punkt an, dass die Linienvorgesetzten völlig deskilled sind und nur mehr als Vollstreckungsorgane und Polizei in der Institution agieren können. Sie geben keine Richtungen vor und haben keine Erklärung für die Richtung, die die Organisation nimmt. Sie sind konsequenter- und typischerweise defensiv, mobbend, unsicher und darauf beschränkt, Losungen der Institutionsleitung wiederzugeben. Sie scheinen mit Mikro-Management beschäftigt, in Wahrheit hat die Metrik von ihnen Besitz ergriffen und operiert durch sie.“19 Das Unverständnis all dessen, was hier top-down zu vermitteln ist, geht zusammen mit vertikaler Dienstfertigkeit, Deskilling mit hilflosem Polizeigehabe. Derweil üben sich, zumindest in der Fantasie von Operations Management und Unternehmensleitungen, die Algorithmen im Selbstmanagement, Nachfahren des Marx’schen automatischen Subjekts. Es bleibt nur noch eine Aufgabe für das Management, alt und neu zugleich: Die Linienvorgesetzten sind hauptsächlich damit beschäftigt, die algorithmische Selbstorganisation vor dem Widerstand der ArbeiterInnen zu beschützen. Der gefügige Charakter ist dafür gemacht, das gesamte Gefüge gefügig zu halten.

Und schließlich bedeutet on the line zu arbeiten auch, buchstäblich an der Linie selbst zu arbeiten, sie ständig zu verbessern, zu erweitern, ihr etwas hinzuzufügen, bis dazu, „eine neue Linie vorzugeben“. Das ist dann auch die neue Funktion des leitenden Management, der Bosse, die keine ManagerInnen sind, sondern leaders. Aufgrund seiner Komplexität können sie das Unternehmen nicht mehr befehligen. Eine Linie vorgeben heißt nun die Linie interpretieren, sie erzählen wie eine Geschichte. Der Linie folgen, sie im Folgen verstehen und im Verstehen erzählen, sie nach/zeichnen mit jeder neuen Wendung, mit jedem plötzlichen Bruch, mit jedem unerwarteten Sprung. Führen heißt in dieser paradoxen Logik der Linie folgen.

Die ständige Reform und Deformierung der Linie ist allgegenwärtige Grundlage des Arbeitens an ihr. Wenn die Linie kontinuierlich in jedem Moment der Gegenwärtigkeit verbessert wird, dann soll auch ihre Zukünftigkeit bestimmt werden. Metrik ersetzt die Messung, der Algorithmus setzt auf ein nunmehr relatives, abgeleitetes, derivatives, metrisches Maß, das Effizienz bewertet, nur um mit ihr zu spekulieren. Die andauernde Modulierung und Glättung des Maßes, die unaufhörliche Neukalkulation braucht die komplexe Logik des Algorithmus. Damit wird die Linie eine spekulative Linie: keine, die vorrangig den Wert einer Ware, einer Firma, eines Konzerns im Auge hat, sondern den Prozess und die Spekulation mit der Linie selbst. Was aus der Linie wird, ist das Ziel aller Berechnungen.

Schließlich ist die Linie auch jene abstrakt-dividuelle Linie, die viele Einzeldinge durchquert. Sie verbindet nicht nur die soziale Fabrik als neues Fließband, sie sammelt, bündelt auch die zusammenpassenden Teile von verschiedenen Einzeldingen, um aus dieser Neuanordnung Mehrwert zu schlagen. Randy Martin schreibt in seinem Buch Knowledge Ltd über diese Umkehrung des klassischen Produktionsprozesses: „Während das massenhafte Fließband all seine Inputs an einem Platz versammelte, um eine straff integrierte Ware zu erzeugen, die mehr war als die Summe ihrer Teile, spulte das financial engineering diesen Prozess verkehrt ab, indem es eine Ware in ihre konstituierenden und veränderlichen Elemente zerlegte und diese Attribute zerstreute, um sie zusammen mit den Elementen anderer Waren zu bündeln, die für einen global orientierten Markt für risikogesteuerten Austausch interessant sind. Alle diese beweglichen Teile werden mit ihrem Risiko-Attribut wieder zusammengesetzt, sodass sie als Derivat mehr wert werden als ihre individuellen Waren.“20

Logistik ist nicht mehr zufrieden mit ökonomischen Diagrammen und Flüssen, mit Kalkulation und Voraussagen, mit Repräsentationen, die der Aktion der ManagerInnen vorausgehen. Sie will, wie Stefano Harney und Fred Moten in Undercommons schreiben, nicht nur den Warenfluss von menschlicher Zeit und menschlichem Irrtum bereinigen, sondern im Konkreten selbst leben, im Raum zugleich, in der Zeit zugleich, in der Form zugleich.21 Mathematische Modelle berechnen in diesem Run auf das Konkrete nicht mehr einfach Risiken, um sie zu kontrollieren und zu minimieren, sondern spielen geradezu mit immer größeren Risiken. Sie sollen in die Zukunft sehen, futures hervorbringen, auf der Basis der gegenwärtig erreichbaren Daten Wahrscheinlichkeiten berechnen. Was unwahrscheinlich ist, kann dennoch eintreten, und heißt dann „schwarzer Schwan“.22 Unwahrscheinlichkeit liegt dabei immer noch im Rahmen der Verwaltung und Ausbeutung von Risiken, die nun nicht mehr das subsistenzielle Risiko der Verletzbarkeit, des Prekärseins allein betreffen, sondern auch derivative oder sekundäre Risiken, die in der Sammlung und Rekombination von großen Massen von Daten entstehen können, maschinisch-dividuelle Risiken.

Zugleich sind die Algorithmen immer auf der Jagd nach dem, was außerhalb ihres Territoriums und dessen Un/Wahrscheinlichkeiten liegt, geradezu definiert durch das, was sie noch nicht sind und was sie möglicherweise nie werden können. Und mit ihnen jagen die Traders des Blank Swan23, wenn sie gleichsam aus dem Nichts heraus Derivat-Verträge schaffen, schreiben, unter/zeichnen: Während Weiße und Schwarze Schwäne auf Wahrscheinlichkeiten basieren, ist der Blank Swan das Tier des Unwissbaren, dessen was jenseits jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt. Für den Ex-Trader Elie Ayache ist der Blank Swan das Nicht-Wissen der Zukunft, das Markt geworden ist. Der menschliche Faktor maschinischen Kapitalismus besteht in dieser Perspektive im Schaffen des Ereignisses der Zeichnung: Die Arbeit der Traders besteht im Schreiben und Zeichnen des Derivats als creatio ex nihilo. Das Bild der voraussetzungslosen tabula rasa durchzieht ihre Fantasien. Ohne vorgängiges Wissen, Voraussicht oder Vorhersagen transportieren sie sich nach Ayache in die Zukunft.

Und immer noch steht die Beziehung zur Zukunft im Zentrum. Auch wenn es eine Zukunft ohne Vorhersagen sein soll, vergessen die Traders auf ihrer gehetzten Jagd nach der Zukunft auf die Gegenwart. Der Blank Swan bleibt genauso wie der Weiße und der Schwarze Schwan in der Logik der Algorithmik und Logistik, immer auf der Jagd nach dem, was sie nicht ist. „There is some/thing logistics is always after“, schreiben Harney und Moten, und in einer für sie typischen Bewegung der leichten Verschiebung nennen sie dieses Vor, dieses Außen, dieses Jenseits der Logistik, nur wenig abweichend von seinem gehetzten, ewig algorithmisch nachholenden Widerpart: logisticality.24


Derivate.
Subprime-Krise, Schuldenkrise, Finanzkrise

In der herrschaftlichen Teilung, im Modus der patriarchalen Partition und des dividuom facere wie im pastoralen Panorama der Disziplinarmacht regieren geprägtes Geld und Gold als Eichmaß. Das Kontrollregime verweist nach Deleuze dagegen auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen, die als Chiffre einen Prozentsatz von verschiedenen Währungsproben einführen. Heute geht es um das Wetten auf die Wechselkurse, auf deren Steigen oder auch auf deren Fallen, in einem unendlichen Modus der Zerlegens und Neuzusammensetzens der dividuellen Linie.

Die US-amerikanische subprime-Krise von 2006 und 2007 ist, zumindest in Europa, oft einseitig moralisch interpretiert worden. Hier die simple Verantwortungslosigkeit der BankerInnen, die ihre KundInnen nicht genau genug geprüft hätten, dort die dummen, verlockten, verführten SchuldnerInnen, die Gelder aufnahmen, über die sie nie verfügen würden. An diesem Bild ist vieles falsch, die pauschale Unterstellung der Dummheit der Betroffenen, die falsche Einschätzung von Bankgeschäften als moralisch bedingt, das Verkennen einer Entwicklung der Finanzinstrumente, die nicht nur in den Krisen-Jahren im engeren Sinn vor sich ging, sondern mindestens in den letzten zwei Jahrzehnten. Doch vor allem die Voraussetzung, dass die Banken gleichsam unhinterfragt massenhaft extreme Risiken eingegangen wären, lässt sich bei genauerer Betrachtung der maschinischen Operationen der Finanzialisierung nicht halten. Die Stereotypenfamilie um das Beutemachen des Raubtierkapitalismus und den Gemeinplatz des predatory lending fällt ebenso in diese Problematik der falschen, weil rein moralischen Interpretation der Abläufe wie das hartnäckige Insistieren einer Trennung von Real- und Finanzökonomie. Mit Angela Mitropoulos und ihrer radikalen Umdeutung der Finanzkrise als „Wucher von unten“ in Contact and Contagion kann man den „Betroffenen“ der subprime-Krise im Gegenteil auch einen ausgeprägten Subjekt-Status zuschreiben: „Es ist zu einfach anzunehmen, dass diejenigen, die die Kredite aufnahmen, keinen Sinn für das Risiko gehabt, keine Strategie entworfen hätten in den beengten Verhältnissen dessen, was schon lange vor dem Auftreten von subprime-Darlehen ein monetarisiertes, rassifiziertes, gegendertes Wohnregime war.“ Man könnte umgekehrt die desorganisierte Macht der subprime class als effektiv beschreiben: „Die subprime class verlängerte ihre Kredite, lebte über ihre Verhältnisse und erzeugte Mehrwert in höchst unproduktiver Weise.“25

Arjun Appadurai hat in einem längeren Aufsatz zum „Reichtum der Dividuen im Zeitalter des Derivats“ unter anderem die finanzpolitischen Aspekte der Dividualisierung diskutiert.26 Er setzt den „Aufstieg des Dividuums“, und zugleich die „Erosion des Individuums“ am Beginn der 1970er Jahre an, in denen der Begriff auch in der anthropologischen Literatur erscheint. Vor allem die Effekte der seit den 1990er Jahren erfolgten Ausbreitung des Derivats als zentralen Werkzeugs im Finanzkapitalismus hätten eine räuberische Form des Dividualismus (predative dividualism im Gegensatz zu progressive dividualism oder truly socialized dividualism) produziert, die in ihrer Vervielfachung opaker und völlig unlesbarer Vorgänge vor allem jeder Prüfung, jeder Regulierung, jeder sozialen oder demokratischen Kontrolle entgehen. Appardurai erklärt den komplexen Ablauf der subprime-Krise folgendermaßen: Das Instrument der Hypothek auf Wohnungen und Häuser, Grundlage einer ganzen Kaskade von Finanz-Mechanismen, ist schon für sich gesehen keine ganz einfache Form des „Besitzes“. „HausbesitzerInnen“ besitzen darin nur die Hypothek, nicht das Haus, zumindest bis zum Ende eines langen Prozesses der Amortisierung. Die kreditgebende Bank ist die wirkliche Besitzerin, während die HypothekenbesitzerInnen mit ihren Zinsen den Profit der Bank sichern. Während die sichtbare und materielle Form des hypothekenbelasteten Hauses relativ fix, begrenzt und unteilbar ist, hat seine finanzielle Form, die Hypothek, die Struktur der endlosen Teilbarkeit, Rekombinierbarkeit und Verkäuflichkeit angenommen.

Dieser hoch-abstrakte, dividuelle Aspekt des Wohnens wurde durch die Einführung eines zentralen, neuen Mechanismus auf einer weiteren Stufe abstrahiert: Das Derivat ist ein Finanzinstrument, das vom Preis anderer Waren „abgeleitet“ wird, das grundsätzlich mit dem möglichen, zukünftigen Wert einer Ware spekuliert. Mit der Komplizierung des Derivats als unendlich fortzusetzender Reihe von Derivaten des Derivats wurde das Instrument zu einem maschinischen Werkzeug des Handels mit Risiken, des Wettens auf Risiken. So wurden auch die Wohn-Hypotheken in eine riesige Welle von Derivaten einbezogen, deren Werte in Bezug auf die realen Werte der Häuser und Wohnungen völlig außerhalb jeder Proportion waren.

Vor allem die Erfindung von Derivaten, die es vielen Erst-BesitzerInnen erlaubten, an Hypotheken zu kommen, war Grund für diesen Riesenspalt zwischen dem Wert des Hauses und jenem des Derivats. Die subprime-Krise heißt so, weil viele Banken Hypotheken an Leute vergaben, deren Kreditwürdigkeit „sub-prime“, von sehr geringer Bonität war. Brigitte Young beschreibt in ihrem Text über „Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle“ die gegenderten und rassifizierten Bedingungen der subprime-Vergabe, gerade gegenläufig zu ihrem Entstehungskontext der Antidiskriminierungsgesetze der 1970er Jahre. Der Zugang zu günstigen Immobilienkrediten für alle Gesellschaftsschichten war über den Zeitraum von Jahrzehnten hinweg als „Bürgerrecht auf Eigentum“ erkämpft worden, doch diese egalitär und emanzipatorisch gedachte Politik machte auch den Weg frei für die gegenderten und rassifizierten Mechanismen, die in die Krise und die „Schuldenfalle“ führten. „ Tragisch ist, dass just in dem Moment, in dem Frauen und Minoritäten durch massive private Verschuldung in die finanzielle Wertsteigerung des Immobilienmarktes integriert wurden, nach dem Motto ‚last in – first out‘, nun in zunehmendem Maß die einkommensschwachen Gruppen getroffen werden, die ihre hoch verschuldeten Immobilien durch Zwangsversteigerung verlieren.“27

Die Hypothekenvergabe an einkommensschwache Gruppen kann also einerseits aus einer längeren Genealogie der Kämpfe um Gleichstellung in Bezug auf ein Recht auf Wohnung erklärt werden, andererseits aus dem Umstand, dass die Finanzindustrien nach 1990 das Potenzial des Wohnungsmarktes in der Vermittlung von neuen derivativen Instrumenten immer höher einschätzten. Arjun Appadurai beschreibt, wie mortgage-backed und asset-backed securities es möglich machten, große Zahlen von Hypotheken zu bündeln, deren Einschätzung einerseits noch komplexer wurde und deren Masse auch genutzt wurde, subprime-Hypotheken zu „waschen“, indem sie mit anderen Hypotheken vermischt und durch diese versteckt wurden. Zugleich wurden mit dem Instrument der collateralized default obligation Bündel von Hypotheken aufgeteilt und in verschiedene Ebenen mit verschiedener Kreditwürdigkeit tranchiert. Auch dadurch wurden die toxischen Tranchen verdeckt, verdunkelt und verkleidet. Die gesamte Architektur der Derivate ermöglichte es vor allem, durch diese Vorgangsweisen der Verdunkelung das Gesamtkreditvolumen der Kreditinstitute enorm auszudehnen.

Während die Einzeldinge an ihrem Ort verharren oder sich bewegen können, geht der Verkehr der Derivate in alle Richtungen. Es handelt sich um einen hyperkomplexen Prozess der Bündelung und Teilung, der durch ebenso komplexe Kombinationen aus technischen und sozialen Maschinen gesteuert wird. Verglichen mit dem Prozess der industriellen Produktion könnte man sagen, dass auch hier diverse spezialisierte Verfahren neue Investitionsgüter herstellen, indem sie Teile aneinanderfügen, montieren, zusammen­setzen.28 Doch in der finanzökonomischen Logik der Derivate gibt es auch den umgekehrten Vorgang: Neben der Zusammensetzung ist der Vorgang der Demontage genauso wichtig wie die völlige Offenheit und Unvorhersehbarkeit des Produkts.

Für den ganzen vielstufigen Prozess der Ableitung, Zerlegung und Neuzusammensetzung verwendet Appadurai die Metapher des Hauses mit einer wunderbaren Aussicht vom ersten Stock, dessen Keller jedoch undicht ist. Interessant ist an seiner Darstellung die Tatsache, dass diese Undichte gerade durch ein Instrument hergestellt wird, das viele Häuser zerlegt, ihre Teile neu ordnet und durch die schönende Darstellung einiger weniger erster Stöcke alle undichten Keller versteckt. Das ist exakt die Logik der Dividualität als eines Durchlaufens von Teilen (in mehreren Aggregatzuständen, hier flüssig und fest) anstelle der Verbindung von individuellen Ganzen. Die Unterwasser-Hypotheken wurden 2006 und 2007 für viele Hypotheken-BesitzerInnen zum Verhängnis, und das Derivat als Finanzinstrument betraf zu allem Überfluss auch nicht nur die Bereiche des Wohnens, sondern auch jene der Ernährung, der Gesundheit, der Bildung, der Umwelt und vieles mehr. Der Zusammenbruch des gesamten US-amerikanischen Finanzsystems konnte in den ersten Wochen der Obama-Administration nur durch riesige Summen öffentlicher Förderung verhindert werden, worauf die Schuldenkrise der europäischen Staaten, vor allem Griechenlands, folgte.

In der Standard-Interpretation der Finanzkrise ist das Derivat einfach ein technischer Aspekt des Finanzwesens unter vielen, kontrolliert durch die maschinenförmige Effizienz des Marktes und die rationale Informationsverarbeitung von mathematischen Programmen. Nur die Flucht des Derivats von diesem, ihm rechtmäßig zukommenden Ort hätte es zu einem Instrument von ein paar wenigen Habgierigen gemacht, zu einem sich selbst vermehrenden Zauberbesen, den seine Zauberlehrlinge, die RegulatorInnen, für einen Moment unbeaufsichtigt gelassen hätten und der damit außer Kontrolle geraten wäre. Aber ähnlich wie es falsch wäre, das Finanzwesen getrennt von der „wirklichen Welt“ oder der „Real-Ökonomie“ zu sehen, zu der man zurückkehren müsste, um die moralische Integrität der Ökonomie wiederherzustellen, ist die Idee einer sich selbständig machenden Maschine der Derivate eine unterkomplexe Darstellung.

Die Finanzökonomie steht heute auf einer Stufe mit der Produktion von Gütern und Dienstleistungen und durchdringt alle ökonomischen Prozeduren. Die Automobil-Industrie etwa hängt heute weniger von der technischen Optimierung der Produktionsprozesse ab, als einerseits von auf Aktivierung und Affekten beruhenden Beziehungen zu ihren AnwenderInnen, andererseits von den konzerneigenen Finanzierungsgesellschaften.29 Gewiss, Derivate kann man nicht essen, und man kann in ihnen auch nicht wohnen, aber die allseits ersehnte Rückkehr zur Realökonomie, Reindustrialisierung, Rematerialisierung ist definitiv kein Ausweg, der als Lösung der multiplen Krise offen steht. Eine Entflechtung von Real- und Finanzökonomie ist ebenso unmöglich geworden wie die marxistische Trennung zwischen industriellen und fiktiven Profiten oder jene zwischen einem produzierenden und einem immateriellen Sektor. Marazzis zentrale These fokussiert die Finanzialisierung stattdessen als eine Seite der allgemeineren Mutation, die hier als maschinischer Kapitalismus beschrieben wird: „Die Finanzialisierung ist kein unproduktiver und/oder parasitärer Umweg zu wachsenden Anteilen des Mehrwerts und der kollektiven Rücklagen, sondern vielmehr die Form der Akkumulation des Kapitals, die den neuen Produktions- und Wertschöpfungsprozessen entspricht.“30

Arjun Appadurai interpretiert die Erfolgsgeschichte der Derivate als die Erfindung nicht nur eines neuen Finanzinstruments, sondern einer neuen Form von Vermittlung. Das Derivat vermittelt die Distanz zwischen Ware und Anlage, die im noch nicht realisierten Potenzial der Ware für zukünftigen Profit besteht. „Durch seine Vermittlung im kapitalistischen Markt wird das Haus zur Hypothek. Weiter vermittelt, wird die Hypothek zur Anlage, die wiederum als zukünftige Ware unsicheren Werts Gegenstand des Handels wird. Und noch einmal vermittelt, wird die Anlage Teil einer anlagengestützten Sicherheit, eine neue derivative Form, die weiter getauscht werden kann in ihrer Inkarnation als debt-obligation.“31 Appadurais Interpretation ist über weite Strecken äußerst aufschlussreich, allerdings scheint es mir in manchen Aspekten sinnvoll, sie über sich selbst hinauszutreiben. Schon die Begrifflichkeit eines „räuberischen Dividualismus“ ist zu sehr durch die Vorstellung einer linearen Entwicklung von einer vor- und außerkapitalistischen, nichtwestlichen Dividualität zum gezähmten Kapitalismus des Wohlfahrtsstaats hin und weiter zu einem postindustriellen Beute-Kapitalismus, schließlich zu dessen vage angedeuteter Überführung in einen „progressiven Dividualismus“ geprägt. Vor allem aber betont Appadurai als zentrale Funktionsweise des „räuberischen Dividualismus“ die unterschiedlichen Formen der Quantifizierung, besonders in Form der Monetarisierung.

Es trifft sicherlich zu, dass sich das zeitgenössische Finanzwesen die dividuellen Formen zunutze macht, die auch durch Quantifizierung produziert werden. Und dennoch entbehrt diese Betonung der Quantifizierung nicht einer gewissen Nostalgie für die Person als Ganzheit und einer impliziten Sympathie für das souveräne Individuum der kapitalistischen Moderne, das nun in der dividuellen Krise zu einer Nummer zu werden droht. Vor allem aber bedenkt der Fokus auf die Quantifizierung nur eine Seite eines allgemeineren Vorgangs der Modulation: die Modularisierung aller Vorgänge als Zählung, Messung, Rasterung. Es entgeht dieser Perspektive die zweite Seite der Modulation, die ständige Modulierung, die nicht nur als eine Hilfsoperation der Verdeckung von Quantifizierung zu verstehen ist, sondern eigenständige, komplementäre Wirkungen zeitigt: als Glättung aller möglichen Reterritorialisierungsversuche, auch jener der selbstbestimmten Streifung von Zeit und Raum.

Was Appadurai als mediation, Vermittlung bezeichnet, ist kein Verfahren der Einführung eines vermittelnden Dritten zwischen die Differenzen, kein Dazwischenschieben und -mischen eines Mittleren wie im Timaios, sondern ein Verfahren der Anpassung, der Angleichung, der „Einelung“ der Differenz, ein Verfahren der Modulation. Der Modus der Modulation ist beides: Modularisierung und Modulierung – ein rasterndes, standardisierendes, modularisierendes Verfahren, zugleich aber auch permanente Neuformung, Modulierung durch die Formen und Raster hindurch, ständige Bewegung der Re-Formierung wie der De-Formierung. Modularisierung ist rasternde Reterritorialisierung und soziale Unterwerfung, säuberliche Trennung und Disziplinierung der Zeiten wie der Räume, Produktion von immer kleinteiligeren Modulen, Einsetzung von Standardmaßen. Modulierung dagegen ist dienstbare Deterritorialisierung und maschinische Indienstnahme, untrennbare, unendliche, grenzenlose Modulierung, Anrufung zur Variation und Glättung des Selbst.

Auch wenn Modularisierung und Modulierung völlig gegensätzliche Vorgänge zu beschreiben scheinen, greifen sie ineinander als doppelte Modulation. In alle Richtungen die Zeit und den Raum immer kleinteiliger zu kerben, immer kleinere Teile zu messen, die Maßstäbe endlos zu verkleinern, fügt sich ineinander mit dem Durchbrechen des Maßes bis zur maßlosen Inwertsetzung und Glättung von Zeit und Raum. Schichten, kerben und zählen aller Verhältnisse, jedes einzelne Modul in Form bringen, zugleich von einer Tonart in die andere gleiten, in noch unbekannte Sprachen übersetzen, alle möglichen Ebenen verzahnen.

Und dies ist auch die Wegscheide, an der der Kipppunkt der Ähnlichkeit wieder relevant wird als entscheidende Vorbedingung von Messbarkeit. Modulierende, qualitative Anpassung ist eine Möglichkeitsbedingung des Quantifizierens, Messens, Modularisierens. Die Einführung des Maßes geht nur über Ähnlichkeitsprozesse der An- und Vergleichung, Prozesse des Einelns. Die Ähnlichkeit als Angleichung und Assimilation ist jener modulierende Prozess, der notwendig ist, um überhaupt neue Modi der Zählung, Rasterung und Modularisierung einzusetzen. Qualitative Angleichung als Voraussetzung von quantitativer Abstufung.

Die modulierende Assimilation fungiert dabei nicht über die Ähnlichkeit von Individuen. Es geht also nicht einseitig um das, was in kulturpessimistischen Argumentationen oft als Gleichmacherei bezeichnet wird. Es geht um Ebenen, die zugleich größer und kleiner, mehr und weniger als das Individuum sind, jene abstrakten Linien, die die Einzeldinge durchqueren, maschinisch durchsuchen und die Teile gemäß ihren Ähnlichkeiten neu anordnen: dividuelle Linien, dividuelle Maschinen. Wenn die Ähnlichkeit ins Messbare kippt, moduliert, dann kann sie auch von einer möglichen Nahtstelle sozialen Verkehrs zum Ordnungsprinzip werden. Und wenn sie das geworden ist, wird sie – wie Foucault mit Blick auf Descartes und Deleuze schreibt – durch den „gesunden Menschenverstand“ erkannt sein, denn dieser ist „die bestverteilende Sache der Welt“: Er „erkennt das Ähnliche, das ganz Ähnliche und das weniger Ähnliche, das Größte und das Kleinste, das Hellste und das Dunkelste“32, und seine Erkenntnis ist Identifizierung, Verwandlung der Ähnlichkeit in Identität, Transformation des potenziell Verschiedenen ins potenziell Gleiche. Es bricht an ein neues „Zeitalter der Vergleichung“, aber ganz anders, als es Nietzsche als „äußere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen“ dargestellt hat (MA, I.1.23): viel eher ein Zeitalter, das die Polyphonie in eine vergleichbare Tonalität pressen, aus der Zusammenstimmung des Ähnlichen eine Übereinstimmung machen will.

Das Derivat ist dabei mehr als nur ein Vertrag über den Austausch einer bestimmten Warenmenge zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt und einem bestimmten Preis. Es ist das Instrument, das gegen die Vorstellung der Trennung von Finanzmarkt und realer Ökonomie gerade die Verbindung aller disparaten ökonomischen Sektoren und Kapitalsorten herstellt, sie miteinander kommensurabel macht und einem gemeinsamen Maß unterstellt. In den Worten Randy Mar­tins: „Während uns die Waren aber als Einheit des Reichtums erscheinen, die Teile in ein Ganzes abstrahieren kann, sind Derivate noch immer ein komplexerer Prozess, in dem Teile nicht mehr einheitlich sind, sondern ständig zerlegt und wieder gesammelt werden, wenn unterschiedliche Attribute gebündelt werden und ihr Wert die ganze Ökonomie übersteigt, unter die sie einst summiert worden waren. Größenverschiebungen vom Konkreten zum Abstrakten oder vom Lokalen zum Globalen sind nicht länger externe Maßstäbe der Äquivalenz, sondern im Inneren der Zirkulation der gebündelten Attribute, die Derivat-Transaktionen vervielfältigen und in Bewegung versetzen.“33 Dividualisierung der Ökonomie, in allen Größenordnungen. Es ist die Kommensurabilität und Vergleichbarkeit, die hergestellt werden muss, um den dividuellen Austausch inwertzusetzen.


Queere Schulden:
Spread, Wucher/n, Exzess

„[…] eine neue Gewohnheit […] pflanzt sich allmählich in uns auf demselben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen – das heißt die notwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem – hervorbringt.“ (Nietzsche, MA, I.2.107)

Während die individuelle Komponente im maschinischen Kapitalismus in den Hintergrund gerät, ist die herrschaftliche Logik der Partition unter dividuellen Bedingungen keineswegs ausgesetzt. Wie in der subprime-Krise deutlich zu erkennen, erweisen sich rassifizierte, gegenderte, nationale und geopolitisch bedingte Formen des Ausschlusses mehr denn je als probate Mittel, um hierarchische Differenzierung, gesellschaftliche Spaltungen und radikale Exklusion durchzusetzen. Sowohl bei den Bedingungen für die Kreditvergabe als auch vor allem bei den seit 2007 erfolgten Zwangsvollstreckungen und Räumungswellen von Wohnungen, deren Hypotheken nicht rückzahlbar waren, lässt sich eine extreme Einseitigkeit erkennen. Christian Marazzi vergleicht die für das Derivatsystem notwendige Einbeziehung möglichst der gesamten Bevölkerung, auch jener Menschen, die keine Garantien vorzuweisen haben, mit einem „Schneeballsystem, bei dem die Letzten, die sich beteiligen, den Ersten ermöglichen, ausgezahlt zu werden“.34 Die besseren Vermögenswerte der Reicheren wurden gerade durch die wachsenden Schulden der Ärmeren gestützt, sodass zuletzt mathematische Risikomodelle darüber bestimmten, wer ein Dach über dem Kopf hat.

Das Derivatsystem und die zu einem guten Teil aus ihm hervorgehenden Finanz- und Schuldenkrisen haben die ungleiche Verteilung des Reichtums verstärkt und beschleunigt und die Welt des maschinischen Kapitalismus zu einem noch unsichereren Ort für viele gemacht. Die hyperproduktivistische Logik der Finanzialisierung treibt das Primat von Aktienkurs und Dividende auf die Spitze und betreibt die Kolonisierung der Gegenwart. Die Derivate erzeugen eine Bedingung des sich zuspitzenden Risikos, der Verschuldung, der Abhängigkeiten über unterschiedliche Zeiten und Räume hinweg. Zur subsistenziellen Teilung kamen die dividuellen Effekte der Finanzialisierung, das Wetten auf die Risiken, die derivativen Machinationen im maschinischen Kapitalismus.

All das schreit nach einer Wiederaneignung der Gegenwart, die uns auf die andere Seite der dividuellen Ökonomie bringt. Wie also eine Ökonomie denken, die nicht auf individuellem Besitz beruht, nicht auf der Enteignung aller und jedes/r Einzelnen, und die zugleich die abstrakt-dividuelle Linie nutzt, um neue Formen der Sozialität zu komponieren? Eine Ökonomie, die in der Verteilung anders konzeptualisiert ist denn als Dividende, als die zu verteilenden Ansprüche von AktienbesitzerInnen: eine Dividende jenseits von Maß und Metrik, von Modularisierung und Modulierung, von Zahl und Chiffre, das zu Verteilende nicht durch Gemeinsinn und „gesunden Menschenverstand“ wohlgeordnet, als „beste Verteilung“, sondern als immer weitere und wilde Verteilung, spread, Streuung, logisticality, Wuchern des sozialen Reichtums? Was, wenn Deleuze und Foucault unrecht hätten, wenn die Ähnlichkeit ein weiteres Mal kippbar wäre, nicht ewig gezeichnet als Verräterin der maßlosen Differenz und Übergang zur Messbarkeit, sondern als Potenzial einer widerständigen Dividualität?

Walter Benjamin verfasste 1933, im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland, einen kleinen Text mit nicht viel mehr als fünf Seiten, dessen Titel „Lehre vom Ähnlichen“ zwar eine umfangreichere Abhandlung erwarten lässt, der aber doch in seiner Intensität und begrifflichen Reichhaltigkeit nicht enttäuscht. Benjamin erwähnt den politischen Zeitbezug des Textes nicht, verweist aber auf einen „gewaltigen Zwang, ähnlich zu werden und sich zu verhalten“. Das betrifft entwicklungspsychologisch das Kind, das sich zunehmend an sein territoriales Umfeld anpasst, kulturhistorisch die Anpassungszwänge in begrenzten Gemeinschaften, zeithistorisch die faschistischen Ästhetiken einer instrumentell gleichmachenden Ähnlichkeit, die als Übergang zur Übereinstimmung, zur totalisierenden Einschließung dient. Statt aber mit diesen Evidenzen einer in die Anpassung zwingenden Ähnlichkeit den Begriff überhaupt zu verwerfen, stellt Benjamin dem Zwang zur Anpassung, Angleichung, Fügung, die über Ähnlichkeit hergestellt werden sollen, einen Begriff einer Ähnlichkeit gegenüber, die sich nicht fügen lässt. Er nennt diese Ähnlichkeit die unsinnliche Ähnlichkeit, und schreibt ihr zu, dass sie „Verspannungen“ stiftet.

Für die Erfindung der anderen Seite der dividuellen Ökonomie ist dieses Kippen der Ähnlichkeit vom Anpassungszwang in etwas, das sich nicht fügen lässt, von enormer Bedeutung. Es existieren unterschiedliche Antworten und erste begriffliche Vorschläge zur Entwicklung der Kämpfe um diese Form der Ähnlichkeit, um eine Ähnlichkeit, die nicht dazu dient, das Nichtmessbare an die quantitative Ordnung der Äquivalenz auszuliefern. Allen diesen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie sich auf ein vages Terrain vorwagen und die Praxen einer dividuellen Ökonomie nicht vorwegnehmen können und wollen.

Christian Marazzi weist auf die produktiven Widersprüche zwischen den Rechten gesellschaftlichen Eigentums und den Rechten des Privateigentums hin. Die in Darlehensverträgen übliche Formel 2+28 steht etwa dafür, dass die Hypothekenzinsen in den ersten beiden Jahren den Gebrauchswert spiegeln, um dann für 28 Jahre lang durch den Tauschwert dominiert zu werden. Die Praxis der ersten zwei Jahre ist Anzeiger für das Recht auf Wohnung, das dann in den darauffolgenden Jahren umso brutaler negiert wird. „Die Finanzlogik produziert so ein Gemeingut, ein Communes, um es in der Folge aufzuteilen und zu privatisieren; die Bewohner werden vertrieben, Mangel und Knappheit in allen Spielarten künstlich geschaffen, sodass es an finanziellen Mitteln und Liquidität ebenso fehlt wie an Rechten, Begehren und Macht.“35 Gegen diese gewalttätigen Konsequenzen haben sich neue Widerstandsformen und instituierende Praxen wie Strike Debt in den USA oder die Räumungsproteste und Hausbesetzungen der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) in Spanien gebildet.36 Gerade das Recht auf Wohnung und die Verschuldung derjenigen, die sich dieses Recht nehmen, hat nicht nur kollektiven Widerstand und Hilfeleistung gegen die Räumungen zur Folge, sondern molekulare Alltagspraxen der Umkehrung des Begriffs der Schulden. Diese Umkehrung der Schulden nimmt verschiedene begriffliche Ausformungen an, in Marazzis Ansatz die Form der „sozialen Rente“: „Wenn, mit anderen Worten, bis heute der Zugang zu einem Gemeingut die Form der Privatschuld annimmt, so ist es von nun an legitim, das gleiche Recht unter der Form sozialer Rente zu denken – und zu fordern. Soziale Rente bezeichnet die Form, in der unter den Bedingungen des Finanzkapitalismus die (Um-)Verteilung des Einkommens auftritt, die Gestalt, in der die Gesellschaft das Recht einer und eines jeden anerkennt, ein Leben in Würde zu führen. Daher lässt sich die soziale Rente auf viele Bereiche beziehen, so insbesondere auf den Bereich Bildung und Wissenszugang, in dem sie die Form des Rechts auf ein garantiertes Stipendieneinkommen annimmt.“37

Hinter diesen Forderungen nach sozialer Rente und Umkehrung der Schulden steckt auch eine Idee der subsistenziellen Teilung, in der die Unhintergehbarkeit einer spezifischen Form des gegenseitigen Verschuldetseins anklingt. Schulden sind sicherlich das erste Mittel zum Einspannen in die Maschinen, zur Fügung der gefügigen Charaktere, je eher, desto effektiver. Zugleich sind Schulden aber auch ein Terrain der molekularen Revolution.38 Stefano Harney und Fred Moten verstehen Schulden in diesem Sinn als Komponente von Wechselseitigkeit und Sozialität, gegen den asozialen Kredit, der Mittel zur Privatisierung ist: „Wir suchen nicht nach Kredit, noch nicht einmal nach Schulden, sondern nach schlechten Schulden, das heißt nach wirklichen Schulden, nach Schulden, die nicht zurückgezahlt werden können, nach Schulden auf Distanz, Schulden ohne Gläubiger, schwarzen Schulden, queeren Schulden, kriminellen Schulden. Exzessive Schulden, unkalkulierbare Schulden, Schulden ohne allen Anlass, Schulden jenseits von Kredit, Schulden als ihr eigenes Prinzip.“39 Vielleicht ist es im Deutschen mit seiner engen Verwobenheit der Begriffe Schuld und Schulden noch schwieriger, sich einen paradox-positiven Begriff von „schlechten“ oder „queeren“ Schulden zu machen. Es geht hier um mehr als im Konzept der sozialen Rente, das eine – noch so zutreffende – Forderung an den Staat bleibt, eine Forderung der Umverteilung unter der Vermittlung des Staates. Das Konzept der queeren Schulden (queer debts) steht auf der Basis des wechselseitigen Verschuldetseins (ohne den moralischen Begriff der Schuld zu bedienen), und es meint zugleich eine offensive Praxis des Schulden-Machens, des Schulden-Exzesses, ohne Rücksicht auf Gewinne.

„Unbezahlte Schulden halten einfach gesagt die Möglichkeit aufrecht, dass ‚man über seine Verhältnisse lebt‘, wenn die Re-/Produktionsmittel nicht mehr in greifbarer Nähe sind“40, schreibt Angela Mitropoulos über die Ausbreitung der Schulden als potenzielle Krise der kapitalistischen Zukünftigkeit. Sie analysiert das überraschende Wiederauftauchen des Begriffs Wucher in den moralischen Diskursen der Krise seit 2007 als Anzeichen von Schulden, die als maßlos, überzogen und illegitim denunziert werden, weil ihre Rückzahlung nicht garantiert ist. Während die potenziell einlösbare Schuld aus der Zukunft eine kalkulierbare Version der Gegenwart zu machen versucht, impliziert die Wiederkehr der mittelalterlichen Sünde des Wuchers ein unkalkulierbares, unwissbares und möglicherweise inflationäres Risiko.41 Mitropoulos verbindet in ihrer Studie diese Wucherung des Risikos mit Praxen und Narrativen der Ansteckung in der Finanzwelt. Galt die Verbundenheit der Finanz-Institutionen früher als gegenseitige Versicherung gegen Liquiditätsschocks, wird sie nun – nach den Finanzkrisen von 1997 in Teilen von Asien und den multiplen Krisen seit 2007 – umgekehrt als epidemische Gefahr von toxischen Anlagen und subjektivem Risiko gesehen. Narrative der „wider- oder unnatürlichen Wertschöpfung“, der „Absenz von Produktivität“ und der „magischen Anhäufung von Geld“ lassen die disruptive Gefahr des Einbrechens der Unmoral in die Ökonomie anklingen. Doch durch die nervöse, überzogene und in Teilen antisemitische Wiederaufnahme des moralischen Diskurses über den Wucher hindurch scheint die Gefahr der Epidemie von queeren Schulden. Die Rede vom Wucher hat nämlich auch mit der viralen Sozialität und ansteckenden Ausbreitung, kurz: dem Wuchern eines „Wuchers von unten“ zu tun: „Wucher lebt in den Poren der Produktion, denn das ist, wo viele leben oder zu leben versuchen.”42

Auch Mitropoulos betont die subsistenzielle Bedeutung der Schulden: „[…] es sind vor allem Schulden, die in Begriffen der unableitbaren, unkalkulierbaren gegenseitigen Abhängigkeit im Teilen einer Welt verstanden werden müssten.“43 Diese Potenzialität der wechselseitigen Verschuldung, der Ansteckung und der Streuung in Raum und Zeit sucht Randy Martin nicht nur in der Umwandlung der Schulden in soziale Rente, queere Schulden oder Wucher, sondern genau im Zentrum der Finanzialisierung, direkt als soziales Potenzial der Derivate. Wenn Derivate Teile bündeln, die weit auseinander zerstreut subsistieren, dann stellt sich zunächst die Frage, warum und wie diese Eigenheit der Derivate auf andere Felder als das ökonomische zu übertragen ist, warum und wozu gerade das Unplanbare, das Derivat, als Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums konzeptualisiert werden kann. Martins Antwort ist dreigeteilt: erstens für eine Konzeptualisierung des Fragmentierten, Zerstreuten, Isolierten als miteinander verbunden, ohne als einheitliches Ganzes zu erscheinen – das ist die brennende Frage nach der Verkettung der Singularitäten in zerstreuter Produktion, mit Marxens Bild von den Parzellenbauern als Kartoffeln: einer politischen Neuzusammensetzung der Kartoffeln, die noch nicht einmal in einem Kartoffelsack nebeneinander zu liegen kommen; zweitens um den Wert unserer Arbeit inmitten von Flüchtigkeit, Unbeständigkeit, Volatilität zu artikulieren – an diesem Punkt verdichtet Martin die technische Zusammensetzung der Produktion als radikal in Bewegung; drittens um die agency of arbitrage anzuerkennen, die kleinen Interventionen in der Entwicklung der Derivate, im Schreiben der Derivate, Interventionen, die klein sind, nichtsdestoweniger aber einen Unterschied machen, vor dem Hintergrund eines „verallgemeinerten Versagens“ ein „schöpferisches Risiko“ eingehen.44

Das Innere des traditionellen Felds der Ökonomie war nach Martin nie als Terrain der Ausbreitung und Dominanz der Derivate zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Martin versucht die Derivate als Außen der Ökonomie zu beschreiben, das zur Krise von Ökonomie und ökonomischen Wissenschaften geführt hat, zu einer Rezession ihres Reichs, ja sogar als Totengräber der Ökonomie. Wenn Derivate die Enteignung des Selbst und des Besitzes vollziehen, dann wird damit auch der gute alte Besitzindividualismus zu Grabe getragen. Die Ökonomie bricht mit den Krisen des letzten Jahrzehnts mehr und mehr auseinander, und die Derivate sind Auslöser und zugleich Gegenstand dieses Auseinanderbrechens: „Die Derivate strömen aus dieser Bresche, sie lassen das Politische und die Schaffung von Reichtum untrennbar werden, sie lösen die Gegebenheit nationaler Bevölkerungen auf und eröffnen andere Aussichten auf wechselseitige Assoziierung.“ Statt wie im traditionellen Blick auf die Derivate als phantasmatischem Bruch der linearen Zeit und Kolonisierung der Zukunft, geht es hier vielmehr um laterale Bewegungen und um neue Verkettungen von Räumen. Die derivative Sozialität erscheint als transnational im starken Sinn – jenseits von Nationalität, als Aussicht auf eine ganz andere Form der Verkettung auf planetarischem Niveau. „Während Derivate in einer Sprache der futures und forwards, der gegenwärtigen Vorwegnahme dessen, was zukünftig ist, konzipiert sind, […] spricht der Akt der Bündelung von Attributen für eine Orientierung nach allen Seiten hin, die ein Effekt von gegenseitiger Kommensurabilität ist.“ Nach allen Seiten hin, als Deterritorialisierung der Grenze, als maschinisch-dividuelle Verkettung scheinbar nicht zusammengehörender Teile, so zieht sich die abstrakte Linie des Derivats. Die Zeitlichkeit der sozialen Logik des Derivats ist dagegen weniger die Vorwegnahme der Zukunft in den futures als eine ausgedehnte Gegenwart, die sich in multilateralem und wechselseitigem Austausch im Hier und Jetzt ausbreitet.

Man muss der hoffnungsvollen Interpretation Randy Martins nicht immer zur Gänze folgen, um die Derivate vielleicht weniger als Heilsversprechen, denn als Symptome einer Veränderung zu verstehen, die neue Öffnungen erzeugt – ohne Sicherheit, ob diese Öffnungen in nie dagewesene Formen herrschaftlicher Partition und Partizipation münden oder in Existenzweisen, in denen Martin zurecht die soziale Logik des Derivats erkennt, als „ein Exzess, der freigesetzt ist, aber nie völlig abgeschöpft werden kann, ein Rauschen, das nicht zum Schweigen gebracht werden muss, Schulden, die eingetragen sind, aber unmöglich zu begleichen.“ Wenn die Vielen sich wegstehlen aus den Zwängen des Kredits, Fluchtlinien ziehen auf und aus dem Immanenzfeld des maschinischen Kapitalismus, die schlechten Schulden zum Wuchern bringen – warum sollte nicht gerade die Dividualität der Derivate zeigen, dass selbst im Modus der Modulation Subjektivierungsweisen entstehen, die der Fügung entgehen?

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1 Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, 254–262, hier: 259. Für eine aktuelle Adaptierung dieser Abfolge vgl. auch Tiziana Terranova, „Red stack attack! Algorithms, capital and the automation of the common“, EuroNomade 2014, http://www.euronomade.info/?p=2268.

2 Ich teile den Begriff des maschinischen Kapitalismus und seine genealogischen Linien (das Marxsche Maschinenfragment, seine post/operaistische Entwicklung und vor allem die Theorie des Maschinischen bei Félix Guattari) mit Matteo Pasquinelli (vgl. z.B. „Maschinenkapitalismus und Mehrwert des Netzes: Notizen zur politischen Ökonomie der Turingmaschine“, aus dem Italienischen von Jakob Gurschler, https://www.academia.edu/3186109/Maschinenkapitalismus_und_Mehrwert_des_Netzes_Notizen_zur_politischen_Okonomie_der_Turingmaschine, italienisches Original in: ders. (Hg.), Gli algoritmi del capitale. Accelerazionismo, macchine della conoscenza e autonomia del comune, Verona: ombre corte 2014, 81–102), möchte das Konzept allerdings nicht in den Zusammenhang der theoretischen Strömung des Akzelerationismus stellen. Die Verwechslung der widerständigen Affirmation spezifischer, genau zu bestimmender Fluchtlinien auf dem Immanenzfeld der zeitgenössischen Ausformungen des Kapitalismus einerseits mit dem naiven Optimismus einer verallgemeinerten Beschleunigung und Überwindung des Kapitalismus andererseits basiert nicht nur auf einem Missverständnis in Bezug auf die oben genannten theoretischen Grundlagen des Maschinischen, sondern auch auf simplifizierenden Vorstellungen der Linearität von Geschichte und der absoluten Deterritorialisierung der Zeit. Vgl. auch die Kritik von Franco „Bifo“ Berardi im gleichen Band: „L’accelerazionismo in questione dal punto di vista del corpo“, 39–43.

3 Harney/Moten, Undercommons, 88.

4 Zentraler Facebook-Slogan, hier in der Version der deutschsprachigen Site http://de-de.facebook.com/.

5 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, 64.

6 Ebd., 48.

7 Ebd., 49.

8 Ebd., 63.

9 Felix Stalder, „Autonomy and Control in the Era of Post-Privacy“, in: Open 19, 82.

10 Foucault, Der Wille zum Wissen, 66.

11 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1997, 464.

12 Ebd., 466.

13 Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, 258. [„Les individus sont devenus des ‚dividuels‘, et les masses, des échantillons, des données, des marchés ou des ‚banques‘.“]

14 Ebd., 262.

15 Ebd., 261.

16 Stefano Harney, „Istituzioni algoritmiche e capitalismo logistico“, aus dem Englischen von Matteo Pasquinelli, in: Matteo Pasquinelli (Hg.), Gli algoritmi del capitale. Accelerazionismo, macchine della conoscenza e autonomia del comune, Verona: ombre corte 2014, 116-129.

17 Ebd., 121.

18 Christian Marazzi, Verbranntes Geld, aus dem Italienischen von Thomas Atzert, Zürich: Diaphanes 2011, 57f.

19 Harney, „Istituzioni algoritmiche e capitalismo logistico“, 125f.

20 Randy Martin, Knowledge Ltd: Toward a Social Logic of the Derivative, Philadelphia: Temple University Press 2015, im Erscheinen. Dank an Randy Martin für die Zurverfügungstellung des Manuskripts des ersten Kapitels.

21 Harney/Moten, Undercommons, 87-99.

22 Vgl. Nassim Nicolas Tayebs Konzept von „Weißen“ und „Schwarzen Schwänen“ (Erstere stehen für das genaue Eintreten der perfekten Vorhersage, Zweitere für die ideale Bedingung des Unwahrscheinlichen) in ders., Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill, München: Hanser 2008.

23 Vgl. Elie Ayache, The Blank Swan. The End of Probability, Hoboken: Wiley 2010.

24 Harney/Moten, Undercommons, 92f.

25 Angela Mitropoulos, Contact and Contagion. From Biopolitics to Oikonomia, Wivenhoe/New York/Port Watson: Minor Compositions 2012, 216.

26 Arjun Appadurai, „The Wealth of Dividuals in the Age of the Derivative“, unveröffentlichtes Manuskript, das im Zusammenhang eines größeren kollektiven Projekts zu The Wealth of Societies veröffentlicht werden wird. Dank an Arjun Appadurai und Randy Martin für die Zurverfügungstellung des Manuskripts.

27 Brigitte Young, „Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle“, in: Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise, Berlin: Ebert-Stiftung 2009, 15–25, hier 25.

28 Vgl. Martha Poon (zitiert in Marazzi, Verbranntes Geld, 36), die die AkteurInnen im „Produktionsablauf“ der Derivate folgendermaßen beschreibt: „Maklerunternehmen, die im direkten Kontakt mit den Konsumenten stehen, sowie Unternehmen, die die Vermittlung übernehmen, Kredite in großen Mengen kaufen und entsprechend den Vorgaben der Finanzinstitute und spekulativen Investmentfonds (oder Hedgefonds), die das Kapital bereitstellen, gruppieren und aggregieren; am Ende der Kette schließlich finden sich die Rating­agenturen, die darüber entscheiden, ob die Zusammensetzung der so geschaffenen Anlageportfolios ihren Qualitätskriterien genügt.“

29 Marazzi, Verbranntes Geld, 28 und 58.

30 Ebd., 49.

31 Appadurai, „The Wealth of Dividuals in the Age of the Derivative“.

32 Michel Foucault, „Theatrum philosopicum“, in: Gilles Deleuze / Michel Foucault, Der Faden ist gerissen, aus dem Französischen von Walter Seitter und Ulrich Raulff, 21–58, hier: 41.

33 Martin, Knowledge Ltd, im Erscheinen.

34 Marazzi, Verbranntes Geld, 40f.

35 Ebd., 41f.

36 Vgl. Ada Colau / Adrià Alemany, Mortgaged Lives (From the Housing Bubble to the Right to Housing), Los Angeles/Leipzig/London: Journal of Aesthetics & Protest Press 2014.

37 Marazzi, Verbranntes Geld, 96. Vgl. dazu auch Tiziana Terranova, „Red Stack Attack!“, die den Begriff Red Stack als Programm für die „Erfindung konstituierender sozialer Algorithmen“ und sozio-technische Innovation auf den drei Ebenen virtuelles Geld, soziale Netzwerke und Bio-Hypermedien vorschlägt.

38 Zur vielfachen Bedeutung von Schulden vgl. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, vor allem 260: „Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“; die auf Marx, Nietzsche und Deleuze/Guattari aufbauende Studie von Maurizio Lazzarato, Die Fabrik des verschuldeten Menschen, aus dem Französischen von Stephan Geene, Berlin: b_books 2012, sowie Randy Martin, „Mobilizing Dance. Toward a Social Logic of the Derivative”, in: Gerald Siegmund / Stefan Hölscher (Hg.), Dance, Politics & Co-Immunity, Zürich/Berlin: diaphanes 2013, 211: „[…] the social entailments of indebtedness are the basis of political engagement.“

39 Harney/Moten, Undercommons, 61.

40 Mitropoulos, Contract and Contagion, 228.

41 Ebd., 209.

42 Ebd., 216.

43 Ebd., 229.

44 Vgl. (auch für das Folgende) Martin, Knowledge Ltd, im Erscheinen.