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09 2007

Übersetzung, Gewalt und die vielsprachliche Intimität

Jon Solomon

Übersetzt von Hito Steyerl und Tom Waibel

Die Biopolitik der Übersetzung

Die Frage, die heute auf uns zukommt, ist, wie wir die Übersetzung mobilisieren können, damit wir den möglicherweise gewaltsamen Wandel zu einer globalen Gesellschaft dieser oder jener Art überleben. Die These dieses Textes ist, dass die größte Quelle der Gewalt, mit der wir heute konfrontiert sind, nicht eine politische, sondern eine biopolitische ist: Sie betrifft die Arten, in denen das Leben zu einem Objekt wird, das in Begriffen von „Bevölkerung“ verhandelt wird, die dann gemäß verschiedener, zueinander in Konkurrenz stehender Klassifikationsschemata organisiert werden, die zwischen dem Biologischen, Anthropologischen und Politischen oszillieren.

Übersetzung ist auf zwei wichtige Weisen mit Gewalt verbunden. Die erste ist der Operation der Übersetzung selbst inhärent, eben weil diese niemals abgeschlossen ist und immer eine Art metaphorische Gewalt gegenüber der originalen Äußerung oder dem originalen Text beinhaltet. Jede Übersetzung ist an sich der immer vorhandenen Möglichkeit einer Gegenübersetzung ausgesetzt, gegen die weitere Argumente für eine Neuübersetzung vorgebracht werden können, wodurch eine Art linguistisches Tauziehen ausgelöst wird. Eben wegen dieser Möglichkeit bestimmt die Institution bevorzugter „Standard“-Übersetzungen nicht nur den sprachlichen Austausch, sondern auch die soziale Organisation. Der zweite Aspekt der Gewalt in der Übersetzung betrifft daher die historischen Dimensionen der sozialen Praxis; und sie ereignet sich genau dann, wenn Unbestimmtheiten durch Institutionalisierung und deren disziplinäre Methoden aufgehoben werden. Daher muss sich die Politik der Übersetzung mit der Segmentierung der Gesellschaft anhand von abgestuften Mehrheits- und Minderheitsbeziehungen befassen, die auf der Grundlage von Geschlecht, Klasse, Ethnizität, „Rasse“ und postkolonialen oder „zivilisatorischen“ Differenzen konstruiert werden.

2006 haben Naoki Sakai und ich eine Ausgabe der mehrsprachigen Serie Traces unter dem Titel Translation, Biopolitics, Colonial Difference[1] herausgegeben, in der wir argumentierten, dass die Unbestimmtheit der Übersetzung ein Modus sozialer Praxis als Antwort auf die kontingente Verdinglichung der Arbeitskraft und auf den Wissenskomplex, der anthropologische Differenz bestimmt, ist. Der call for papers für diese Ausgabe schlug den potenziellen AutorInnen vor, den Begriff der Übersetzung direkt in eine politische Diskussion über die Produktion sozialer Beziehungen und humanistischen Wissens im Kontext der vom Kolonialismus ererbten anthropologischen Differenz einzubringen. Wir leugneten nicht unser Ziel, den Begriff der kulturellen Übersetzung über den „strategischen Essentialismus“ hinauszutreiben und eine neue Vision synkretischen Wissens und sozialer Praxis vorzustellen, die den anthropo-technologischen Status des „Westens“ sowohl als Ausnahme wie auch als Form der Immunität untergraben sollte. Zentral in dieser Diskussion war der Begriff einer Biopolitik der Übersetzung. In einer Serie von Vorlesungen in den späten 1970er Jahren führte Michel Foucault die Begriffe der „Biopolitik“ und der „Gouvernementalität“ als Werkzeuge ein, um darüber nachzudenken, wie Lebensprozesse – und die Möglichkeit, sie durch technische Mittel zu kontrollieren und zu modifizieren – in die Sphäre der Macht eindringen und zu ihrem Hauptinhalt werden. Foucaults Leistung wurde allgemein als innovativer Versuch verstanden, eine neue Ontologie einzuführen, die am Körper ansetzt und eine Möglichkeit bietet, das politische Subjekt außerhalb der herrschenden Tradition der modernen politischen Philosophie zu denken, die es als Rechtssubjekt interpretiert.[2] „Biopolitik“ bezeichnet daher eine alltägliche Sphäre angeblich unpolitischer (oder depolitisierter) sozialer Aktionen und Beziehungen – von Foucault als „Eintritt des Lebens in die Geschichte“ bezeichnet –, die nichtsdestotrotz mit wichtigen Effekten für die Produktion sozialer Subjekte behaftet ist. Diese Effekte, weit entfernt von der Rolle, die der Politik als solcher traditionell zugeschrieben wird, insoweit sie die Verwaltung der Bevölkerung betrifft, wirken sich dennoch direkt auf die Konstruktion dessen aus, was in den Machtverhältnissen auf dem Spiel steht.

Um Werkzeuge aus Foucaults Begriffswerkkasten zu verwenden, war es jedoch, wie wir meinten, notwendig, den latenten und durchdringenden Okzidentalismus in seiner Arbeit einer gründlichen Kritik zu unterziehen und gleichzeitig Möglichkeiten für ein Verständnis von Biopolitik im globalen Kontext zu eröffnen. Der Begriff einer „Biopolitik der Übersetzung“ erlangt konzeptuelle Gültigkeit und wesentliche Bedeutung im Hinblick auf das spezifisch moderne – d. h. globale – Phänomen der linguistischen Standardisierung, die mit Nationalisierung und kolonialer Landaneignung zusammenhängt. Seit der gleichzeitigen Geburt von Philologie und Biologie wurde die Moderne mit der Entstehung eines globalen kartografischen Imaginären assoziiert, das Menschen ohne vorgängige „Erinnerung“ eines Migrationskontakts oder nur einer „tiefen Erinnerung“ („deep memory“) wie der Etymologie durch die Vermittlung eines imperialen Zentrums miteinander in Verbindung setzt. Mit dem Wandel zu einer globalen Form des räumlichen Imaginären beginnt die Moderne linguistisch gesehen mit der Ausweitung des Projekts der Standardisierung auf alle Arten sozialer Differenzen und der Einschließung verschiedener Bevölkerungen im Prozess der nationalen Homogenisierung (die sich, wie Jacques Bidet argumentiert, auf der Ebene des Weltsystems ereignet) und der inneren Segmentierung (die sich auf der Ebene der „Klassen“-Differenz oder Struktur ereignet)..[3] Dieser Prozess muss wiederum im Kontext des Kontakts mit anderen globalen Bevölkerungen gesehen werden, die denselben traumatischen Prozessen systemischer Definition und struktureller Segmentierung ausgesetzt sind. Die Biopolitik der Übersetzung benennt so diesen Raum des Austauschs und der Akkumulation, in dem das alltägliche Erscheinen von Sprache der Politik zuvorzukommen scheint. Unsere Forschungen zeigen: Wenn „Übersetzung“ gemäß eines Repräsentationsschemas des epistemologischen Subjekts verstanden wird, benennt sie nicht die Operation, durch die kulturelle Differenz „überbrückt“ wird, sondern eher die präventive Operation, durch die ursprüngliche Differenz – die auftaucht, wenn Übersetzung als Akt sozialer Praxis verstanden wird – gemäß den verschiedenen, aus der kolonialen Begegnung entstehenden klassifikatorischen Schemata des biologisch-soziologischen Wissens segmentiert und organisiert wird.

Aus dieser Perspektive ist das moderne Regime der Übersetzung eine konkrete Form der „systemischen Komplizität“, deren primäre Funktion die Verwaltung von Bevölkerungen innerhalb des Bereichs der imperialen Herrschaft ist. In anderen Worten ist sie eine global anwendbare Technik der Segmentierung, die soziale Beziehungen verwalten soll, indem sie sie zwingt, die Kreisläufe auf der „systemischen“ Ebene zu passieren. Aus Sakais Forschung über die transnationale diskursive Struktur sowohl der Japanese Studies als auch der Institution des japanischen Kaisertums, oder auch in der Beziehung zwischen dem imperialen Nationalismus und der Bewahrung ethnischer Minderheiten,[4] erfahren wir, dass die Geografie der nationalen Souveränität und der zivilisatorischen Differenz, die die geokulturelle und geopolitische Landkarte der Welt und der Geisteswissenschaften konstituiert, auf eine wichtige subjektive Technologie oder gouvernementale Technik verweist, die bis vor Kurzem durch einen anthropologischen Diskurs von „Kultur“ gründlich naturalisiert wurde. Erst heute können wir erkennen, wie eine eine Vielfalt verschiedener disziplinärer Arrangements, die eine Ökonomie der Übersetzung bildet (die seit der Kolonialzeit existiert, aber den Untergang des Kolonialismus lang überlebt hat), in der Tat differenz-kodierte, typischerweise nationale/„rassische“, in ihrer Konstituierung von einander abhängige Subjekte produziert und in spezifischen Abständen an einem einzelnen, aber extrem hierarchischen Herrschaftszustand beteiligt ist. Unser Ziel im Traces-Band war es, eine Serie von Genealogien nachzuzeichnen, innerhalb derer „Übersetzung“ nicht mehr nur als Operation des Transfers, der Übertragung und Äquivalenz verstanden wird, sondern eher eine grundlegende historische Rolle in der Herausbildung des Sozialen einnimmt.

 
Adressierung versus Kommunikation: ein poststrukturalistisches Problem

Im Rest dieses kurzen Textes könnte es nützlich sein, ein wenig zurückzublicken und die Grenzen einer poststrukturalistischen Herangehensweise an die Übersetzung zu erwägen. Die Unbestimmtheit, die durch poststrukturalistische Perspektiven enthüllt wird, bietet eine wichtige Vergleichslinie, von der aus verstanden werden kann, wie Übersetzung auf biopolitische Weise mobilisiert wird.

Vorhersehbarerweise werden wir argumentieren, dass diese Unbestimmtheit weiter kontextualisiert werden muss, wenn sie der Formalisierung entgehen will und uns helfen soll, eine wirklich effektive Basis für soziale Bewegungen kritischen Denkens zu errichten. Die zwei Hauptaspekte von Sakais Verständnis der Übersetzung sind: 1) die Unterscheidung zwischen verschiedenen Momenten von „Ansprache“ und „Kommunikation“ und 2) die außergewöhnliche Position des/der ÜbersetzerIn. Beide Aspekte reflektieren Probleme, die für den Poststrukturalismus zentral sind: der erste das „Ereignis der Sprache“[5] über und jenseits der bestimmten Bedeutung jeglicher spezifischen Äußerung – die bis heute für die Wissenschaft unerklärbare Tatsache, dass die sprachliche Äußerung im Allgemeinen für menschliche Wesen möglich ist; letzteres mit der Logik des Ausschlusses oder der Ausnahme.

Sakai zufolge verweist „Adressierung“ auf eine soziale Beziehung (jene zwischen Adressierendem/r und AdressatIn), die primär praktischer und performativer Natur, also der Verhandlung von Bedeutung gegenüber unbestimmt und offen, ist. „Kommunikation“ benennt demgegenüber die imaginäre Repräsentation dieser Beziehung hinsichtlich einer Serie von Einheiten, die durch pronominale Identitäten und mitteilenden Inhalt bestimmt werden, d. h. dadurch, wer wir sein und was wir bedeuten sollen. Theorien der Kommunikation, die notwendigerweise normativ sind, blenden regelmäßig die Tatsache der Adressierung in der Kommunikation aus. Sie sind von der außerlinguistischen Annahme abgeleitet, dass „wir“ angeblich fähig sind, untereinander zu „kommunizieren“, wenn „wir“ eine linguistische Gemeinschaft sind. Sakai schreibt: „Adressierung garantiert nicht, dass die Botschaft an der richtigen Adresse ankommt. Daher bedeutet das ‚Wir‘ als pronominale Anrufung in der Adressierung eine Beziehung, die performativer Natur ist, unabhängig davon, ob ‚wir‘ eigentlich dieselbe Information kommunizieren oder nicht.“[6] Die Einführung einer Unterscheidung zwischen Adressierung und Kommunikation hat den Vorteil, uns einen Weg zu ermöglichen, die radikale Äußerlichkeit sozialer Beziehungen gegenüber der Herstellung von Bedeutung ohne vorbestimmten, normativen Zugang zu begreifen.

An sich kommuniziert die „Adressierung“ nichts außer der Präsenz der „Kommunikation“ selbst, die während der Übersetzung aktualisiert werden kann oder nicht. Die Adressierung ist demnach ein Einstieg zu einer Potenzialität: Sie zeigt eine wesentliche Beziehung an, durch die Bedeutungsgebung stattfindet und die Sinn zuweist, aber sie besitzt darüber hinaus keine besondere Bedeutung. Obwohl diese Potenzialität jeder sprachlichen Situation innewohnt, besteht der Grund für die besondere Evidenz im übersetzerischen Austausch in der Möglichkeit des Scheiterns, der „Nichtkommunikation“, die allen Beteiligten sofort offensichtlich wird. Was Sakai „das Regime homolingualer Adressierung“[7] nennt, ist folglich das Modell, nach dem diese Negativität eher als einfaches Fehlen der Bedeutung verstanden wird denn als eine bedingungslose Potenzialität, „nicht zu sein“, im Kontext einer positiven Beziehung. In anderen Worten: Wenn ich dich im übersetzerischen Austausch nicht verstehe, dann kann ich nur unter dem Einfluss der homolingualen Adressierung annehmen, dass der Grund für dieses Unverständnis gesellschaftlichen Faktoren wie der Zugehörigkeit zu repräsentativen Gemeinschaften geschuldet ist. Wenn wir einander wirklich nicht verstehen würden, dann gäbe es für uns keinen Weg, gegenseitig zu ergründen, ob das Problem wirklich einem solchen besonderen Faktor (wie gemeinschaftliche Zughörigkeit) entspringt. Nicht „in“ Kommunikation zu sein gleichzusetzen mit dem Gedanken, dass Adressierende/r und AdressatIn nicht „in“ derselben sozialen Gruppe sind, ist die Verwechslung von Potenzialität und Repräsentation. „Außerhalb“ einer sozialen Gruppe zu sein bezieht sich auf eine Frage des Status, die nur durch Protokolle der Repräsentation (der „Zugehörigkeitsnachweis“ ist nur der offensichtlichste) verifiziert werden kann. Die Institution der homolingualen Adressierung ist demnach auf ein Gemeinschaftsmodell gegründet, das vom Begriff der Vereinigung oder Verschmelzung abstrahiert ist – Jean-Luc Nancy nennt dies in einer berühmten Abhandlung über die philosophischen Grenzen der modernen Gemeinschaft „Immanentismus“.[8] Die Potenzialität, „außerhalb“ der Kommunikation zu sein, ist aber die Kraft der Adressierung, die jedem Kommunikationsvorgang, unabhängig vom repräsentativen sozialen Status, zukommt. Jeder Kommunikationsvorgang weist auf eine Potenzialität hin (den Moment der Adressierung) und zeigt auch eine bestimmte Bedeutung an. Diese Ambiguität birgt wichtige Auswirkungen für die Metaphysik der Sprache in sich, die sich in der Übersetzung zeigen. Als solche beinhaltet sie zwei Seiten: Die eine Seite ist die Aktualität des Ereignisses, die Tatsache, dass es Sprache gibt. Beides kennzeichnet eine soziale Beziehung (Sprache ist immer zuerst eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Personen) und bezeichnet auch eine bestimmte Bedeutung. Die andere Seite ist die Tatsache, dass diese Aktualität (das Scheitern der Kommunikation) sich nicht als das Ergebnis einer Macht zeigt, die nicht realisiert worden ist, sondern als eine Potenzialität, eine nicht zu realisierende Macht. Natürlich ist es, wenn es möglich ist, sich zu entscheiden zu kommunizieren, immer auch möglich, zu versuchen nicht zu kommunizieren. Können wir sicher sein, dass die Zuschreibung der Nichtkommunikation an „objektive“ Faktoren wie gemeinschaftliche Zugehörigkeit nicht selbst voller ungeklärter institutionalisierter Entscheidungen (wie die nationale Standardisierung der Sprache unter der Schirmherrschaft des Staates) ist, die aus dem Versuch, nicht zu kommunizieren, eine Form der Kommunikation machen würden? Eine solche Sicherheit kann nur um den inakzeptablen Preis der Ablehnung des Begriffs der sozialen Konstruktion selbst erlangt werden. Offensichtlich erscheint die Effektivität dieser Macht, „nicht zu sein“, nicht einfach aufgrund angenommener Differenzen zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften, sondern auch, weil der Versuch zu kommunizieren bedeutet, sich selbst einer Exteriorität auszusetzen, einer bestimmten Exteriorität, die nicht auf die Äußerlichkeit eines Referenten zu einer Bedeutung reduziert werden kann.[9] Die in unserer Zeit mit dem Wort „Übersetzung“ bezeichnete soziale Praxis ist die linguistische Situation, die dieses Merkmal – das eigentlich allen Arten des sprachlichen Austauschs gemein ist – genau darum am sichtbarsten macht, weil sie sich von der am Staat orientierten Repräsentation des Austauschs zwischen unterschiedlichen Bereichen einer a priori die Gemeinschaft betreffenden Differenz abhebt. Formen von Adressierung, die diesem elementaren Aspekt des sprachlichen Austauschs Rechnung tragen, nennt Sakai „heterolinguale Adressierung“.

 
Die heterolinguale Intimität: Ein konstruktiver Dialog mit dem Poststrukturalismus

Wir können nun verschiedene vorläufige Schlussfolgerungen in Bezug auf die heterolinguale Adressierung zusammenfassen: 1) Sie ist nicht darauf gegründet, welche Position man einnimmt (oder eher, in welche Position man versetzt wird), sondern vielmehr auf die Potenzialität, die von der außergewöhnlichen Position des/der ÜbersetzerIn hervorgehoben wird; 2) Die Pluralität der Sprachen in einer gegebenen Situation garantiert nicht von sich aus den Zugang zur heterolingualen Form der Adressierung, die immer noch die Anerkennung von und das Bekenntnis zur Heterogenität in allen Situationen erfordert, sogar in jenen, die normalerweise für „monolingual“ gehalten werden (daher die allgegenwärtige Ablehnung von Jakobsons Begriff der „eigentlichen Übersetzung“); 3) Die Ethik der heterolingualen Adressierung verlangt nach der Erfindung neuer Formen, die das Gemeinschaftliche und das Fremde verbinden.

Was sagt uns dann die Erfahrung heterolingualer Adressierung über soziale Beziehungen? Bezeichnenderweise beschreibt Sakai dies in Begriffen der Entfernung: „In unserem Fall bedeutet das Scheitern der Kommunikation, dass jeder von uns dem anderen ausgesetzt, aber entfernt ist, ohne den Grund ‚unserer‘ Trennung zu erfassen.“[10] Oder nochmals, weiter unten: „[…] der Unterschied zwischen adressieren und kommunizieren […] drückt die wesentliche Entfernung nicht nur des/der Adressierten zum/zur Adressierenden aus, sondern auch die des/der Adressierten oder Adressierenden zu sich selbst.“[11] Die heterolinguale Adressierung ist demnach eine Form der Ethik, in der alle an der Kommunikation Beteiligten sich im Hinblick auf die Adressierung an das Element der Entfernung in jeder sozialen Beziehung erinnern.

Während du jetzt sprichst, ist das Ethik.[12] Das ist die täuschend einfache Formel, die der italienische Philosoph Giorgio Agamben am Ende einer grundlegenden Arbeit, die den metaphysischen Implikationen pronominaler Anrufung gewidmet ist, die er Jakobson folgend „Verschieber “ nennt (deren Gebrauch, wie wir eben bei der Übersetzung gesehen haben, zwischen Bezeichnung und Bedeutung oszilliert) vorschlägt. Agambens Ethik der Aussage ist nicht im Sinne von Positionen aufgebaut (wie es im Konzept der „Aussageposition“ der Fall war, die von den angloamerikanischen Cultural Studies und Identitätspolitiken vertreten wurde), sondern im Sinne von Potenzialitäten – genauer der Potenzialität, nicht zu sein. Für die poststrukturalistischen KritikerInnen der Übersetzung würde der Schwerpunkt des Interesses demnach unweigerlich darauf gerichtet werden, wie diese Potenzialitäten in Formen von Schweigen, Rhetorik und Logik in unterschiedlicher Weise organisiert und reorganisiert werden.[13]

Bringt diese Ethik nur eine negative Verfügung, die „Entfernung“ zu wahren, wie Sakai offenbar festhält, oder kann sie bestimmte Formen von Nähe erlauben oder gar erfordern? Wenn der „intime Feind“ – um den Titel einer bekannten Arbeit von Ashis Nandy zu entlehnen – ein herausragendes Merkmal der postkolonialen Beziehungen ist, dann kann die Gewalt in unserer postkolonialen Welt nicht ohne Bezug auf Intimität gedacht werden. Darüber hinaus wollen wir fragen: In welchem Maß könnte die von der ethischen Beziehung heterolingualer Adressierung geforderte Ökonomie der Entfernung an anderen praktischen sozialen Beziehungen beteiligt sein, wie Gender, wo die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat eine überaus wichtige Rolle spielt, oder etwa bei intellektueller Differenz (Etienne Balibars Bezeichnung für Arbeitsteilung), wo die Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden von Wissen eine entscheidende Rolle in der Verteilung von Eigentum spielt? Genau aufgrund dieser Beziehungen und Fragen glaube ich, dass Sakais Begriff der heterolingualen Adressierung (oder auch Nandys Konzept des intimen Feindes) durch die Berücksichtigung der Forderung nach Intimität, die von feministischen postkolonialen KritikerInnen wie Gayatri Spivak thematisiert wird, viel gewinnen würde: „Der Anspruch auf Intimität“, erklärt sie, „bringt auch die Anerkennung der öffentlichen Sphäre mit sich“[14], insbesondere in Bezug auf die der Klassen- und Genderdifferenz geschuldeten Segmentierung im postkolonialen Kontext der Übersetzung. Der Nachdruck, den Spivak für feministische Übersetzerinnen auf die Bedeutung legt, fähig zu sein, „[…] von intimen Angelegenheiten in der Sprache des Originals [zu sprechen]“, kann als Einladung gelesen werden, die theoretischen Abgrenzungen von Gemeinschaft – eben jenes Feld, in das Genderverhältnisse eingreifen – neu zu überdenken. Intimität[15] kann demnach auch als Aufforderung dazu interpretiert werden, Übersetzung unnötig zu machen, indem eine „fremde“ Sprache als eigene verwendet und gleichzeitig von den MuttersprachlerInnen eine vergleichbare Bereitschaft eingefordert wird, in fremden Akzenten aller Art eine neue Form der sozialen Intimität zu erkennen.

Leider ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen, wie heterolinguale Intimität praktisch gefördert oder gar instituiert werden kann. Zweifellos liegt das wichtigste Hindernis, das im Versuch auftritt, Übersetzung gegen Gewalt zu mobilisieren, ohne entweder die Formen metaphorischer Gewalt, die eine übersetzerische Praxis unweigerlich begleiten, oder die zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte vorhandenen Möglichkeiten alternativer sozialer Gefüge zu leugnen, minimal darin, sowohl die in Nancys „Immanentismus“ sichtbar werdende Art unmittelbarer Verschmelzung als auch die sich unwissentlich einem brüderlichen Modell von Gemeinschaft nähernde Art der Distanzierung zu umgehen. Gerade weil die heterolinguale Adressierung auf der brüchigen ontologischen Möglichkeit gründet, nicht zu sein, zeigt sie eine ihr innewohnende Beziehung zum juridisch-institutionellen Begriff der Freiheit, für den TheoretikerInnen des modernen Nationalstaates wie Ernst Renan eintreten und der wiederum eine weitere Bedeutungsklärung, besonders im postkolonialen Kontext, erfordert. Wie von Alain Brossat, Roberto Esposito und Jacques Derrida auf unterschiedliche Weise gezeigt wurde, hat dieser juridisch-institutionelle Begriff der Freiheit historisch zu einer Obsession von defensiver – sogar präventiver – Immunität als Kehrseite der Gemeinschaft geführt. Die zeitgenössische Auflösung dieser Obsession lässt sich an der Verbreitung politischer Ressentiments unter den Bevölkerungen der reichen Nationen der Welt erkennen (zumal in der gegenwärtigen „Rückkehr in den Westen“) und an der Tendenz, Instrumente globaler Macht – insbesondere einschließlich des Rechts – in unilateraler Weise zu gebrauchen.

Einer der Forschungsbereiche neben Gender, in dem Übersetzung am besten auf das Problem der Gewalt angewendet werden könnte, ist demnach in den historischen Dimensionen des internationalen Rechts im (post-)kolonialen Kontext zu sehen. Ein wachsender Korpus von engagierten Forschungsarbeiten, unter denen den Schriften von Blanco, Liu, Dudden und Derrida[16] besondere Bedeutung beigemessen werden muss, zeigt, dass Übersetzung eine zentrale biopolitische Rolle im Übergang von den alten imperialen Reichen zu einer einzigen globalen Welt spielt, die in ein geokulturelles System aus souveränen Nationalstaaten und migrantischen, von einem dominanten Zentrum gesteuerten Arbeitsmärkten aufgeteilt ist. Übersetzung erzeugt nicht nur Geschichte (im modernen Sinn von Subjektivität), sondern sie erzeugt, was ebenso wichtig ist, auch Welt (den Rahmen oder Grund, ohne den Subjektivität unmöglich erschiene). Das Erbe dieses modernen Übersetzungsregimes ist nicht beschränkt auf die historische Ungerechtigkeit, die den Rahmenbedingungen des internationalen Rechts eingeschrieben ist, und die geokulturellen Trennungen, denen es normativ vorsteht, d. h. es ist nicht auf das europäische Erbe einer Weltgeschichte als solcher begrenzt, sondern dehnt sich tatsächlich aus und umfasst die disziplinären Trennungen der Humanwissenschaften, die anthropologischen Annahmen, auf denen sie (auch heute noch) gegründet sind, und, vielleicht am einschlägigsten, die geopolitischen Trennungen der post/kolonialen Weltordnung, die die biopolitische Gewalt organisieren, rechtfertigen und rationalisieren.

Frances Dalys kritische Analyse von Agambens Versuch, die den Rechtsdiskurs untermauernden Kategorien „Individuum“, „BürgerIn“, „Souveränität“ und „allgemeiner Wille“ neu zu denken, könnte hier als letztes Beispiel für die Art von konstruktivem Dialog mit dem Poststrukturalismus angeführt werden, die notwendig ist für ein neues Konzept von heterolingualer Intimität, das gegen die zeitgenössische biopolitische Gewalt in globalem Maßstab mobilisiert werden kann. Dalys Kritik könnte meiner Meinung nach durch die Erweiterung des Wirkungsbereichs des Dialogs noch verbessert (und bestimmt verändert) werden, um nicht nur die poststrukturalistische Wiedereinschreibung der Rechte, sondern auch die Sprache zu umfassen (die beiden sind sowohl in Agambens als auch Derridas Fall eng miteinander verbunden). Gewiss zielt Daly implizit auf diese Verbindung ab, wenn sie schreibt, dass „der Versuch, […] Nationalstaaten von der Kategorie der Flüchtlinge zu befreien [um die Gewalt des Ausschlusses zu verschleiern]“[17], sowohl linguistisch als auch praktisch ist.

Das ist exakt der Bereich heterolingualer Adressierung …


[1] Traces wird derzeit in englischen, chinesischen, japanischen und koreanischen Ausgaben publiziert. Die englische Ausgabe des vierten Bandes, Translation, Biopolitics, Colonial Difference, wurde von der Hong Kong University Press 2006 publiziert. Ein Text, der diese Arbeit einem frankophonen Publikum vorstellt und Parallelen zur Enstehung des Postfordismus zieht, wurde in Ausgabe 29 der französischen Zeitschrift Multitudes veröffentlicht: Vgl. Jon Solomon / Naoki Sakai, „Traduction, biopolitique et différence coloniale“, übersetzt von Christophe Degoutin, in: Multitudes, Nr. 29, Sommer 2007, S. 5-13.

[2] Maurizio Lazzarato, „From Biopower to Biopolitics“, übersetzt von Ivan Ramirez, in: Pli, 13, 2002, S. 100-111.

[3] Vgl. Jacques Bidet, Théorie Générale, Paris: Presses Universitaires de France 1999.

[4] Naoki Sakai, „You Asians“, in: Harry D. Harootunian / Tomiko Yoda (Hg.), The South Atlantic Quarterly, Bd. 99, Nr. 4, Herbst 2000, S. 789-818; ders., „Subject and Substratum“, in: Cultural Studies, Bd. 14, Nr. 3 und Nr. 4, 2000, S. 462-530.

[5] Vgl. Christopher Fynsk, Language and Relation … that there is language, Stanford: Stanford University Press 1996.

[6] Naoki Sakai, Translation and Subjectivity, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997, S. 4-5.

[7] Ibid., S. 6.

[8] Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Patricia Schwarz 1988, S. 15.

[9] Vgl. Sakai, op. cit. 1997, S. 7.

[10] Ibid., S. 7; Hervorhebung im Original.

[11] Ibid., S. 9, Hervorhebung im Original.

[12] Giorgio Agamben, Language and Death. The Place of Negativity, übersetzt von Karen Pinkus und Michael Hardt, Minneapolis: University of Minnesota Press 1991, S. 108.

[13] Diese dreiteilige Inszenierung der Wirkung der Sprache wurde von Gayatri Spivak, „The Politics of Translation“, übernommen: Gayatri Spivak, Outside the Teaching Machine, New York: Routledge 1993, S. 179-200. In einer Agamben und postkolonialen TheoretikerInnen wie Lydia Liu und Naoki Sakai gewidmeten vergleichenden Studie haben wir z. B. gezeigt, wie „der Westen“ sich als hegemoniales Subjekt konstituiert – etwa in Agambens Werk selbst – durch den Einsatz solcher metaphysischen „Verschieber“ im Vorgang der Übersetzung. Vgl. Jon Solomon, „Translation as a Critique of the West: Sakai, Agamben, and Liu“, präsentiert am Sommerinstitut Chilhac, Frankreich, September 2007, gemeinsam organisiert vom philosophischen Institut, Paris VIII, und dem Institut für Sozialtheorie, Chiao Tung Universität.

[14] Spivak, op. cit., S. 188.

[15] Ein einfacher Hinweis muss in diesem begrenzten Raum eine detaillierte Debatte über das viel versprechende Konzept der Zärtlichkeit in der Übersetzung, das von Sathya Rao ausgearbeitet wurde, ersetzen. Vgl. Sathya Rao, „Peut-on envisager l’avenir de la traduction sans paisir? Pour une érotique du traduire“, in: META, Bd. 50, Nr. 4, Dezember 2005; http://www.erudit.org/livre/meta/2005/000222co.pdf.

[16] John D. Blanco, „‚Within and Outside My Ill-Fated Land‘. The Philipines between Christendom and the Eurocentric World-Order“, unpubliziertes Manuskript; Jacques Derrida, Eyes of the University, Stanford: Stanford University Press 2004; Alexis Dudden, „Japan’s Engagement with International Terms“, in: Lydia Liu (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulation, Durham: Duke University Press 1999, S. 165-191; Lydia Liu, Clash of Empires, Cambridge: Harvard University Press 2004; und Tobias Warner, „Bodies and Tongues. Alternative Modes of Translation in Francophone African Literature“, in: Naoki Sakai / Jon Solomon (Hg.), Translation, Biopolitics, and Colonial Difference, Traces No. 4, Hong Kong: Hong Kong University Press 2006, S. 295-324. Ich arbeite derzeit an einem ähnlichen Projekt über den japanischen Gelehrten Shinobu Jumpei (1871-1962), der während der 1930er Jahre eine Kritik der Exterritorialität und des internationalen Rechts mit einer Verteidigung des japanischen imperialen Kolonialismus verband.

[17] France Daly, „The Non-Citizen and the Concept of ‚Human Rights‘“, in: Borderlands, e-journal, Bd. 3, Nr. 1, 2004, zugänglich auf: http://www.borderlandsejournal.adelaide.edu.au/vol3no1_2004/daly_noncitizen.htm.