01 2002
Die kollektiven Phantome freisetzen. Flexible Persönlichkeit, vernetzter Widerstand
Übersetzung Marion Hamm
In der besten aller kapitalistischen Welten würde die Börse mittels eines spekulativen Spiels, das sich später in der "wirklichen Ökonomie" auszahlt, Ressourcen für industrielle Entwicklungen bereitstellen. Wie steht es dann mit dem Internet? Zwischen 1995 und 2000 wurden weltweit riesige Summen in Infrastruktur investiert. Heute wird die Krise dieses Überangebots als Katastrophe bewertet. Aber die Geschichte ist listenreich, und so könnte ein Ergebnis des Dotcom-Booms durchaus die Freisetzung von Unmengen privater Geldmittel zur Entwicklung eines virtuellen öffentlichen Raums gewesen sein, in dem nun die wesentlichen Konzerne in ihrem eigenen Revier herausgefordert werden können - das heißt, im Reich der transnationalen Finanzmärkte. Die Spekulanten des späten 20. Jahrhunderts fragten: "Sind dem Profit, den wir aus dem Internet ziehen können, irgendwelche Grenzen gesetzt?" Wer für die virtuelle Ökonomie arbeitet oder unter deren Auswirkungen leidet, den könnte eine gewagtere Spekulation reizen: "Können wir wirklich einen vernetzten Widerstand gegen den Kapitalismus der Konzerne aufbauen?"
In einer Situation, in der oppositionelle Bewegungen mit den neuen "Antiterrorismus"-Kampagnen konfrontiert sind, ist diese Frage aktueller denn je. Unter den Antworten werden Veränderungen in der Gesetzgebung und im Fortgang der technischen Entwicklungen [1] sein.
Die unmittelbaren Reaktionen jedoch sind künstlerische und kulturelle. Sie sind unlösbar verbunden mit subjektiven Widerstandspotentialen. Und Widerstand hat eine Geschichte, die wiederum voller Listen ist. Diese Listen werde ich mir hier genauer ansehen, um die vielleicht wichtigste Frage zu beantworten: "Kann die virtuelle Klasse wirklich der Beherrschung durch die flexible Persönlichkeit entfliehen?"
Paragdigmenwechsel
Von Taylor und Ford bis Stalin und De Gaulle war im 20. Jahrhundert die rationalisierende Autorität die Hauptwidersacherin der radikalen Linken. Ob in der Fabrik oder in den hohen, befehlsgebenden Rängen des Militärs - die Archetypen der Unterdrückung waren Reglementierung und eine pyramidenförmige Hierachie. Seit den 30er Jahren hat sich dertarismus in Ost und West in einer Logik weiterentwickelt, die Krieg, Arbeit und Bürokratie zusammenbrachte. Die Autoren der Frankfurter Schule waren die ersten, die diese Situation analysiert haben.
Die Originalität der Frankfurter Schule bestand darin, Marx und Freud zur Untersuchung der masochistischen Libido der industriellen Ökonomie zu kombinieren. Dies bedeutete jedoch nicht nur, über das Lustprinzip hinauszugehen. Was die Frankfurter Schule seit den 30er Jahren untersuchte, war ein Paradigmenwechsel: Eine neue Form polit-ökonomischer Steuerung, die ihre sozialen Finger bis tief in die Psyche hineinsteckte. Die Liquidierung des bürgerlichen Individualismus des 19. Jahrhunderts und die Entstehung eines planenden Zentralstaates und einer völlig durchmobilisierten Fabrikgesellschaft setzten sich auf der subjektiven Ebene darin fort, was die Frankfurter Schule die autoritäre Persönlichkeit nannte. Diese faschistische Charakterstruktur wurde als "neuer anthropologischer Typus" verstanden. Seine Grundzüge bestanden in rigider Konventionalität, Unterwerfung, Ablehnung jeglicher Subjektivität, Klischeehaftigkeit, einem übertriebenen Interesse an sexuellen Skandalen, nachdrücklicher Betonung von Macht und der Projektion unbewusster Impulse. [2]
Die Autoren der Frankfurter Schule entwickelten ihre Analyse autoritären Verhaltens in den 40er und 50er Jahren, im Angesicht des amerikanischen Staatskapitalismus. Exiliert im Land der Freiheit prangerten sie eine immer tiefergehende Versklavung durch die instrumentelle Vernunft an, insbesondere durch den sanften Zwang der Kulturindustrie. Mitte der 60er Jahre hatte sich die Kritik an der Disziplinargesellschaft weit verbreitet. Die neuen Formen der Rebellion gegen die standardisierenden Kräfte sind bekannt: Sie reichen von Kampagnen für freie Meinungsäußerung und Kriegsdienstverweigerung bis hin zu Reich´schem Gruppensex, Provo-Aktionen, situationistischem Drifting und LSD - eben dem, was Marcuse einen "Ausbruch von Massensurrealismus" nannte. Auf einer tieferen Ebene gab es eine Bestärkung von Subjektivität, Identität, Sexualität, dem Privaten, das das Politische ist. Eine Poesie des Widerstands verbreitete sich in der Gesellschaft und trug zum Niedergang der Reglementierung, der sozialstaatlichen Bürokratien, der Massenkonsum-Modelle und der Fabrikdisziplin bei. Aber sind wir uns darüber bewusst, wie diese Transformation das heutige polit-ökonomische System mitgeformt hat?
Die soziale Ordnung hat auf die Krise der 60er und 70er Jahre reagiert und dabei ausgewählte Elemente der alten Kritik akzeptiert. In den letzten 20 Jahren ist in den entwickelten Ländern ein neues Paradigma mit einem spezifischen Produktionssystem, einer spezifischen Konsumideologie und entsprechenden sozialen Kontrollmechanismen entstanden, alle zusammen integriert in eine geopolitische Ordnung. Beinahe zwei Jahrzehnte lang blieb diese Entwicklung weitgehend unbewusst, unsichtbar, unbenennbar. In dieser Zeit waren avantgardistische Bewegungen obsolet, Intellektuelle nutzlos. Es gab keine Alternative. Nun beginnen auf einmal allerorten die Risse zu bersten. Man beginnt zu realisieren, dass die Neue Weltordnung nicht nur an ihren Rändern in den sogenannten Entwicklungsländern repressiv ist. Sie hat ein neues System flexibler Arbeitskraft geschaffen, das weite Teile der Bevölkerung sogar dort ausbeutet und entfremdet, wo man eigentlich Reichtum erwarten würde. Und mitten im Herzen der unverbindlich lässigen Freiberuflerkultur, vollgestopft mit PCs, Handies, und allgemeinem Nomadismus, wird unablässig die Technologie der Kontrolle neu erschaffen. Im Spiel der Ökonomie zu gewinnen wird heutzutage reich belohnt: Man wird zum Erfinder der flexiblen Persönlichkeit.
Kultur/Ideologie
Neue Paradigmen setzen sich durch, weil sie funktionieren. Erst im Rückblick können wir erkennen, wie sie zu Modi der Kontrolle wurden. Im Kalifornien der 70er Jahre, als die Kultur der Mikroelektronik erfunden wurde, war Flexibilität eine extrem positive Idee. Diese Kultur war das genaue Gegenteil der rigiden 50er Jahre: Offenheit gegenüber anderen, verkörperte Erfahrung, Selbstdarstellung, Improvisation, die Verweigerung von Hierarchien und Disziplin. Dies waren die utopischen Tage von Bucky Fuller, Gregory Bateson und dem Whole Earth Catalog: Niemand hätte sich träumen lassen, dass An Ecology of Mind je zu einem Management-Werkzeug werden könnte. Aber dieser lockerere, kreativere Lebensstil brachte nicht nur eine ganz neue Produktpalette hervor, die als Konsumanreiz ihre Nützlichkeit hatte. In Kalifornien, und letztlich in weiten Teilen der entwickelten Welt, schien die neue Kultur darüberhinaus einen Ausweg aus den sozialen Konflikten zu versprechen, die die fordistischen industriellen Systeme zum Stillstand gebracht hatten.
Führen wir uns etwa vor Augen, wie sich die Situation für die Trilaterale Kommission in ihrem 1975 erstellten Bericht The Crisis of Democracy [3] darstellte. Die Länder der Dritten Welt nutzen die Dynamik der nationalen Befreiung, um höhere Preise für ihre Ressourcen zu verlangen, während gleichzeitig die USA ihren Krieg in Indochina verloren. Die Kapitalerträge brachen ein, während wilde Streiks sich multiplizierten und die großen ökologischen Auseinandersetzungen ihren Anfang nahmen. Doch am schlimmsten war, dass die ungeheuren Nachkriegsinvestitionen in vergesellschaftete Erziehung, ersonnen zur Deckung des Wissensbedarfs der Techno-Ökonomie, nach hinten losgingen und Widerstand gegen Kapitalismus und Bürokratie produzierten, außerdem alternative Wertvorstellungen, die Forderung nach mehr Sozialleistungen und überhaupt weitreichende Vergesellschaftung. Diese neuen Forderungen an den Sozialstaat kamen zu den traditionellen Forderungen der Arbeiterklasse hinzu, und dann begann die Krise. In den Augen der Eliten wurden die Länder des Trikont zunehmend "unregierbar", es gab, um den berüchtigten Satz von Samuel Huntington zu zitieren, einen "Überschuss an Demokratie". Die systematische Kritik, der die Frankfurter Schule den Weg gebahnt hatte, erreichte ihren Höhepunkt Mitte der 70er Jahre. Von da an musste das autoritäre System beginnen, vom Feind im Inneren zu lernen.
Die Transformation dauerte ein Jahrzehnt. Das goldene Zeitalter des Neomanagements begann Mitte der 80er Jahre, als gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen durch Roboter ersetzt und ungelernte Arbeitskräfte in Übersee gesucht wurden. Konzernaktivitäten und Finanzströme expandierten weg von jenen Nationen, denen man überzogene Regulierung und Umverteilung zuschrieb. Die dreifache Herausforderung für die ManagerInnen bestand darin, weitverstreute Arbeitskräfte bei der Stange zu halten, einen Weg für globales Marketing und globalen Vertrieb zu öffnen, und vor allem eine Kultur - oder eine Ideologie - zu schaffen, die einer signifikanten Anzahl jüngerer Leute Lust machen würde, diese neue Maschine zu bedienen. Das Schlüsselwort dieser Zeit war "Flexibilität".
Das soziale System musste die Ansprüche auf Autonomie, Selbstverwirklichung und Bedeutung akzeptieren und umlenken, es musste eben diese Ansprüche in einen neuen Kontrollmodus umsetzen. Die französischen Soziologen Boltanski und Chiapello haben innerhalb dieses Prozesses die Bedeutung der Kooptierung dessen gezeigt, was sie als "künstlerische Kritik" bezeichnen - eine Kritik, die Mobilität, Spontaneität, die Reduzierung von Hierarchien forderte; kurz gesagt, die Auflösung der Entfremdung oder "Disalienation" - zumindest für die "Kreativen" [4] . Daher werde die hierarchische Pyramide - wo immer möglich - durch die soziale Form des Netzwerks ersetzt. Ein wichtiger Aspekt dieser Lösung war jedoch unmittelbar technologisch. Es stellte sich heraus, dass die magische Antwort auf die Fragen, mit denen die herrschenden Eliten der 70er Jahre konfrontiert waren, ein Kommunikationsgerät war, eine Sprach- und Bildmaschine: der vernetzte Personal-Computer. Für die kritischen TheoretikerInnen der 60er Jahre war IBM zugleich Werkzeug und Symbol einer Disziplinarbürokratie gewesen. Nun stellte man sich vor, dass der Computer die Befreiung sein werde.
Freiheit war schon immer die große neoliberale Parole, von Hayek und den Ökonomen der Chicago-Schule bis zu den rechten Libertären und dem Cato-Institut. In solchen Theorien wird sie andauernd mit ökonomischer Initiative gleichgesetzt. Innerhalb der Linken wurde die Wirtschaft traditionell als das Gegenteil der Kunst betrachtet, gerade so wie der Akt des Verkaufens das Gegenteil des spontanen Geschenks ist. Die ästhetischen Strategien der "Gegenkultur" jedoch - Differenz und Andersheit, das Rhizom, das Wuchern der Subjektivitäten - konnten auf die Spitze getrieben und in einer semiotischen Ökonomie zum Einsatz gebracht werden, in der man Bilder und Zeichen verkauft. Eine derartige Ökonomie war durch Telematik möglich geworden. Vernetzte Interaktivität versprach die Platzierung einer kompletten neuen Alchimie kooperativer Produktion in eben jener Art von globalen Kanälen, wie sie bereits für die Finanzökonomie funktionierten. Forschung und Erfindung konnten sich direkt in den Kreisläufen von Produktion und Vertrieb abspielen.
Der Laptop Computer setzte individuelle physische und psychische Mobilität frei, zudem konnte er als Kontrollinstrument über geographisch verstreute Arbeitskräfte eingesetzt werden. Er miniaturisierte den Zugang zur verbleibenden Bürokratie, während er gleichzeitig private Kanäle in die Welten der Unterhaltung, der Medien und des "fiktiven Kapitals" eröffnete - in die spekulative Ökonomie, die sich aus der Demontage des öffentlichen Raumes nährt. Und das Beste war, dass er jegliche kulturelle Produktion zu einer Ware umkodierte - Multimedia. Hier war ein Entwicklungsmodus, der sämtliche von den 60er Jahren geerbten Probleme lösen oder zumindest mit einem Zuckerguss überziehen würde, insbesondere die Kämpfe um den Sozialstaat. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Konzerne aktiv einen Mythos der Flexibilität voranzutreiben begannen. Die entstehende "virtuelle Klasse" stolperte mehr oder weniger blindlings in diesen Mythos hinein - einschließlich der KulturproduzentenInnen, digitalen KünstlerInnen, Prosumer (Endkunden, die ihre Telekom-Dienstleistungen selbst konfigurieren, Anm.d.Ü.), all denen, die man heute "immaterielle Arbeiter" nennt.
Leitsysteme
Wie funktioniert diese Kultur/Ideologie? Krieg ist heutzutage ein beliebtes Thema, also nehmen wir mal die militärische Perspektive ein.
Die beliebteste Waffe im Kalten Krieg war das ICBM: ein gewaltiger, niemals eingesetzter Riese, ohne Ende dekonstruiert von den KritikerInnen des Logo- und Phallozentrismus. Die neue Weltordnung startete mit einem kleineren, praktischeren Gerät durch: der Cruise Missile. Diese Waffensorte wird andauernd eingesetzt, und zwar nicht nur auf dem Schlachtfeld. Seit der Blütezeit von Star Wars - damit ist sowohl die Strategic Defense Initiative als auch der Film von Lucas gemeint - ist der militärische Unterhaltungskomplex Teil der Alltagserfahrung geworden.
"Anscheinend ist der Einzelhandel zu allem bereit, wenn es darum geht, Kunden einzufangen", heißt es in einem 1997 erschienenen Artikel mit dem Titel "Star Wars bricht über die KäuferInnen herein" (zitiert von Sze Tsung Leong in The Harvard Guide to Shopping). "Man betrachte nur die Supermarktkette Safeway, die kürzlich ein System künstlicher Intelligenz von IBM mit dem Namen AIDA (artificial intelligence data architecture) einsetzte - ein System, das ursprünglich zum Aufspüren und Erkennen russischer Raketen im Weltraum entwickelt wurde, aber heute ... zur Analyse von Informationen über Einkaufsmuster anhand der auf digitalen Kundenkarten gespeicherten Daten eingesetzt wird." Wenn das Begehren der KonsumentInnen "angemacht" und zum Wuchern ermutigt wird, wird das Aufspüren und Verfolgen der flexiblen Persönlichkeit zur ultimativen Kontrollphantasie.
"Massenmarketing ist im Grunde genommen tot", schreibt der Business-Guru Art Weinstein in Market Segmentation. "Hochpräzises, zielgerichtetes Marketing ... hat die Führung übernommen. Aus der Fokussierung auf immer kleinere, doch profitable Marktsegmente gehen stärkere Beziehungen zwischen Firmen und ihren Kunden hervor. Mit technologischen Produkten können NutzerInnen praktisch die Märkte für Unternehmen erfinden - KundInnen werden zu BedürfnisanpasserInnen, bzw. `Customers´ become `Customizers´". Wenn Feedback-Mechanismen direkt in die Vertriebskanäle eingebaut werden, dann sind die Quellen des Begehrens der Überwachung der Konzerne unmittelbar zugänglich. JedeR kann jetzt selbst zur Perfektionierung des eigenen internen Leitsystems beitragen.
Bis vor kurzem schienen solche Trends angenehm doppeldeutig - eben der irritierende Preis für zunehmende Freiheiten. Aber das seit dem 11. September ausgebrochene Sicherheitsfieber wirft auf alles ein anderes Licht. Der Ansporn zu immer mehr Leistung, zum Auffinden kreativer Wege zum Einsatz der neuen Apparaturen enthüllt nun sein verborgenes Gesicht: die Angst vor dem ausgeschlossenen Anderen, den Imperativ der skrupellosen Ausdehnung und Perfektion des Systems. Und das System ist tatsächlich bedroht, nicht nur durch selbstmörderische Terroristen: Der Zusammenbruch der "New Economy", die wachsenden Proteste gegen die neoliberale Globalisierung, die Revolution gegen den IWF in Argentinien… Die perfekte Lösung ist die totale Mobilisierung, der Übergang zum Kriegszustand. Der 11. September war eine Chance, die nur darauf wartete, genutzt zu werden - die Chance, das neue Paradigma auf jeder Ebene zu konsolidieren.
Der amerikanische Künstler Jordan Crandall hat die militärischen Zwänge des vernetzten Systems sichtbar gemacht. Seine Arbeit setzte mit dem Erbe der 70er Jahre ein: Experimentieren, Kooperation, vernetzte Performance, Sich-Einstellen auf die Gegenwart anderer im virtuellen Raum. 1998 jedoch stellte er einen im Militärbereich tätigen freiberuflichen Anbieter ein, der ihm bei der Entwicklung einer Software zur Vorhersage von Bewegungen helfen sollte. Deren Algorithmen erscheinen in Videobildern als unheimliches grünes Spurennetz rund um Körper herum. Die darauf folgenden Ausstellungen, "Drive" und "Heat-Seeking", waren ausgewachsene Erkundungen der psychosexuellen Verhältnisse des Sehens und Gesehenwerdens, und zwar durch neue Technologien sowohl in ihrer zivilen als auch in ihrer militärischen Anwendung. [5]
Ein kürzlich auf Nettime erschienener Text, "Fingering the Trigger", berichtet, wie der CIA eine unbemannte, mit Kameras und Raketen ausgerüstete Kampfdrone zum Feuern auf einen verdächtigen afghanischen Mann einsetzte, der, wie sich herausstellte, wahrscheinlich nur nach Metallabfällen suchte. "Im Akt des Anvisierens bringen wir Auge, Sucher und Ziel in eine Linie", schreibt Crandall. "Aber auch wir werden anvisiert, wir werden in anderen Sehakten konstituiert. Dabei handelt es sich um Analyse- und Kontrollsysteme, in denen der Körper positioniert ist. Diese sehen uns als eine Verknüpfung von Daten, Materialität und Verhalten, und benutzen eine Sprache des Tracking, Profiling, Targeting, des Identifizierens und Positionierens... Innerhalb der entstehenden weitverzweigten Visualisierungsnetzwerke weiß man nie, auf welcher Seite man wirklich steht: Der Sehende wird zum Gesehenen, während der Zielende zu dem wird, auf den gezielt wird." Crandall nimmt an, dass in dem Körper-Maschine-Bild Komplex eine neue Sexualität residiert; daher das Bild des Soldat-Manns im Ausdruck "fingering the trigger" - "den Abzug befingern".
Dieses Werk verhilft uns dazu, das zu sehen, was das schnelle Geld und der Pluralismus der Clinton-Jahre verborgen hielten: die Umrisse einer Sozialpathologie. Wie alles, was mit dem Militär zu tun hat, hat sie einen autoritären Beigeschmack. Aber sie produziert nicht das gedankenlose, stereotype Verhalten, wie wir es mit dem Faschismus der 30er Jahre verbinden (oder heute mit Le Pen). Was Crandall beschreibt, ist ein extrem intelligenter Prozess, der das mobilisierte Individuum erfolgreich an ein soziales Ganzes bindet - und zwar eben dadurch, dass er individualisiert - durch Tracking, Individualisieren, Hervorlocken von Bedürfnissen, Kanalisieren von Visionen und Ausdruckskraft. Der neue Faschismus deckt eine komplexe, dynamische Ordnung für subjektive Differenz, perspektivische Analyse, jouissance/Genuss, sogar schizophrene Ekstase auf. Er integriert den vernetzten Individualismus.
Die Geister in der Maschine
Arthur Kroker hatte eine Vorahnung dieser Entwicklungen. Vor beinahe einem Jahrzehnt schrieben er und Weinstein über den "liberalen Faschismus" der "virtuellen Klasse": Eine technologische Elite, getrieben von habgierigem Individualismus, deren Interessen auf der Seite des Finanzestablishments, des Militärstaats und der Konzerne liegen. Aber wie alle Neosituationisten in Baudrillards Kielwasser ist auch Kroker besessen vom "Recline of the West, dem "Zurücklehnen des Westens" und von der hypnotischen Macht des digitalisierten Bildes: "Die virtuelle Klasse ist von Möchtegern-Austronauten bevölkert, die es nie bis zum Mond geschafft haben", heißt es in einer Passage aus Datenmüll. "Eine Kritik an diesem neuen Apolloprojekt für die Körpertelematik wird von ihnen nicht ohne weiteres akzeptiert."
Dies war 1994, als Krokers Text geschrieben wurde, zweifellos richtig. Aber die massenhafte Verbreitung des Zugangs zum Internet, vorangetrieben durch den Bedarf des globalisierten Managements und allerorten bejubelt als Katalysator technologischer Entwicklung, brachte die Öffnung des virtuellen Raums für politische Kritik und soziale Bewegungen mit sich. Am Ende des Jahrtausends begannen ganz normale BürgerInnen, den vorher ausschließlich den Eliten vorbehaltenen transnationalen Raum zu entdecken. Eine der wichtigsten Bestrebungen seit den späten 90er Jahren war es gewesen, die neuen Herrschaftsmodi zu entschlüsseln, um die weltweite Arbeitsteilung über den spektakulären Fluss der Bilder (und Finanzinformationen) hinaus zu erkennen. Ein weiterer, vielleicht der Allgemeinheit weniger zugänglicher, aber für die 1999 in Seattle sichtbar gewordenen Kämpfe entscheidender Versuch war die Schaffung einer Poesie des Widerstands: eines virtuellen Klassenkampfs neben dem verkörperten Klassenkampf, der niemals ganz verschwunden war.
Man denke an die AAA, gegründet 1995 mit einer fünfjährigen Mission: der Etablierung eines planetarischen Netzwerks zur Beendigung des Monopols der Konzerne, Regierungen und des Militärs über Weltraumreisen. Die Association of Autonomous Astronauts ist eine Art multipler Name, eine frei erfundene Identität. "Vergesst den Mond: Reclaim the Stars", proklamierten sie am 18. Juni 1999 während des "Carnival against Capital". Es ging nicht darum, eine Künstlergruppe zu gründen, sondern eine soziale Bewegung - ein kollektives Phantom, das im globalen Maßstab agierte. "Anders als ein auf die Kunstpraxis beschränkter multipler Name operiert ein kollektives Phantom im breiteren Kontext der Populärkultur, und wird als Instrument des Klassenkampfs eingesetzt", sagt ein Astronaut der Süd-Londoner AAA in einem Text mit dem Titel "Resisting Zombie Culture." [6]
Ein Aspekt des Projektes war die infrastrukturelle Vermessung der Satellitenhardware, die das Kommunikationsnetzwerk der Welt verbindet. Ein weiterer Aspekt war, was Konrad Becker "e-scape" nennt: Die Tore der Zukunft zu knacken bedeutet die Beherrschung multidimensionaler Landkarten, um neue Ausgänge und "Ports" im Hyperspace zu öffnen; dazu braucht man Pässe, die Reisen über die normative globale Realität hinaus in parallele Kulturen und unsichtbare Nationen ermöglichen; Versorgungslager für Nomaden auf den Wegen der revolutionären Praxis ziellosen Fluges". Ricardo Balli gibt einen weiteren Hinweis darauf, was dieses galaktische Phantom tun könnte: "Wir haben kein Interesse daran, in den Weltraum zu gehen, um VorreiterInnen einer kommenden Revolution zu sein: Die AAA beabsichtigt, einen Science Fiction der Gegenwart zu errichten, der vor allem ein Instrument der Konfliktualität und des radikalen Antagonismus sein kann" [7]
Diese Ideen klingen phantastisch, aber der Einsatz ist echt: ein politisches Subjekt innerhalb der virtuellen Klasse zu imaginieren, innerhalb eben jener Ökonomie der Kulturproduktion und des intellektuellen Eigentums, die die Poesie des Widerstands gelähmt hatte. Man denke an Luther Blissett, einen obskuren jamaikanischen Fußballspieler, der von Großbritannien nach Italien verkauft wurde. Fußballstar wurde er zwar keiner, aber immerhin eine wuchernde Signatur, der "Autor" eines Buches mit dem Titel Mind Invaders: Come fottere i media. Hier, zwischen den Fabeln von Ray Johnson und Mail Art, nimmt sich Blissett seine Zeit für ein wenig polit-ästhetische Theorie: "Ich könnte einfach sagen, der multiple Name ist ein Schild gegen den Versuch der etablierten Macht, ihren Feind zu identifizieren und individualisieren, eine Waffe in den Händen derer, die Marx ironisch "die schlechtere Hälfte" der Gesellschaft nannte. In Spartacus von Stanley Kubrick erklären sich alle bezwungenen und von Crassus gefangengenommenen Sklaven zu Spartakus, so wie alle Zapatisten Marcos sind, und ich bin alle von uns Luther Blissetts. Aber ich werde das nicht einfach so sagen, denn der kollektive Name hat auch eine fundamentale Wertigkeit oder Valenz insofern, als er auf die Konstruktion eines offenen Mythos abzielt, elastisch und als Netzwerk redefinierbar..." [8]
Der "offene Mythos" des Luther Blissett ist ein Spiel mit persönlichen Identitäten, wie der dreiseitige Fußball, den man in der AAA spielt: eine Möglichkeit, die sozialen Regeln so zu verändern, dass eine Gruppe sich simultan in mehrere Richtungen bewegen kann. Diese "fundamentale Valenz" ist ein wichtiger Aspekt in der Frühgeschichte der Gegen-Globalisierungsbewegung. Man denke nur daran, wie sich Namen wie Ya Basta, Reclaim the Streets oder "kein mensch ist illegal" in den sozialen Netzwerken dieser Welt ausgebreitet haben. Man sollte diese Namen nicht als Kategorien oder Identifizierungsmerkmale sehen, sondern als Katalysatoren, Ausgangspunkte, wie die weißen Overalls (tute bianche), die ursprünglich im Nordosten Italiens getragen wurden: "Die Tute Bianche sind keine Bewegung, sie sind ein Instrument, das in einer breiteren Bewegung (den Sozialzentren) ersonnen und einer noch breiteren Bewegung (der globalen Bewegung) zur Verfügung gestellt wurde," schreibt Wu Ming 1 in der französischen Zeitschrift Multitudes (Nr.7). Dieses "Instrument" wurde 1994 erfunden, als Formentini, Bürgermeister von Mailand und Mitglied der Lega Nord, die Räumung eines besetzten Zentrums anordnete und bekanntgab: "Von nun an werden HausbesetzerInnen nichts weiter als in der Stadt umherirrende Gespenster sein!" Aber dann tauchten die weißen Gespenster in ganzen Schwärmen bei der nächsten Demonstration auf. Und so entstand eine neue Möglichkeit zur kollektiven Aktion: "Es steht allen frei, eine tuta biancha zu tragen, solange sie nur den 'Stil' respektieren, selbst wenn sie die Ausdrucksweisen verändern: Pragmatische Verweigerung der Dichotomie von Gewalt und Gewaltlosigkeit, Bezug auf den Zapatismus; Bruch mit der Erfahrung des 20. Jahrhunderts, begeisterte Annahme des symbolischen Terrains der Konfrontation."
Doch dann geschah etwas Seltsames, erklärt Wu Ming in einem anderen Text: "Manche Leute stellten dem weißen Overall rhetorisch den blauen Overall gegenüber, und ersterer wurde als Metapher für die postfordistische Arbeitskraft gesehen - flexibel, `prekär´, ZeitarbeiterInnen, denen die Bosse den Genuss ihrer Rechte und der gewerkschaftlichen Vertretung entziehen." [9]
Zwischen Politik, Klassenunsicherheit und bloßem Wortspiel kamen die Tute Bianche voll in Gang. Die Technik der "geschützten direkten Aktion" erlaubte den irrwitzig gepolsterten Demonstranten, die Schläge der Polizei auszuhalten - eine Möglichkeit, nicht nur auf die Medienbildschirme vorzudringen, sondern vor allem in die Gedanken hunderttausender anderer Leute. Im Juli 2001 versammelten sie sich in Genua, um eine echte politische Debatte in einem Land zu eröffnen, das sich in einen neofaschistischen Konsens verbissen hatte.
Ein weiteres Beispiel für eine aus dem Verwirrspiel der Identitäten geschaffene Wirkung sind die Yes Men mit ihren kameen- oder chamäleonartigen Auftritten als Repräsentanten der Welthandelsorganisation. Wir reden hier über zwei Künstler, deren echte Namen unschwer zu finden sind. Aber die sprachliche Ungewissheit ist mindestens ebenso interessant. "Ja" zu sagen zur neoliberalen Ideologie kann umwerfend satirisch sein, wenn zum Beispiel der selbsternannte WHO-Repräsentant "Hank Hardy Unruh" die logische Fiktion des Employee Visualization Appendage (Mitarbeitervisualisierungsfortsatz) zur Schau stellt: ein telematisches Arbeiter-Überwachungsgerät in Form eines meterlangen goldenen Phallus. Bis jetzt hat sich noch niemand eine bessere Karikatur der flexiblen Persönlichkeit ausgedacht. Aber welche Art von Satire ist am Werk, wenn "kein mensch ist illegal" die neoliberale Ideologie ernstnimmt und alle Grenzen dieser Welt zu offenen Grenzen deklariert, und zwar für alle? Wie die feuerfarbenen Masken, die in Quebec City von Tausenden getragen wurden, haben die heutigen vernetzten Proteste zwei Gesichter: Das Lachen der offenen Kommunikation, oder die Gewaltsamkeit eines geknebelten Mundes hinter einem Maschendrahtzaun. Beide zusammen machen die Wahrheit der gegenwärtigen politischen Konfrontation aus.
Stimme und Exit
Zweifellos verbleiben Millionen der "flexiblen Arbeiter" dieser Welt weitgehend geknebelt, stumm, ohne Stimme und ohne Hoffnung auf Entkommen. Aber mit der Zunahme der Internetnutzung und seit sich viele Leute seine kommunikative Macht im Bereich der Organisation als auch der Subversion angeeignet haben, ereignete sich eine Metamorphose im "transnationalen öffentlichen Raum", der bislang nur Konzernen und ihren Regierungen offenstand. Die elektronische e-scape - eine neue Form der Exitstrategie, ein Exodus aus dem nationalen Raum - war eine Vorbedingung für den Zugang zu einer politischen Stimme, weit davon entfernt, ihr Gegenteil zu sein. [10] In diesem Deleuze´schen Sinne wird Dissens in den späten 90er Jahren virtuell: Virtualität als Latenz, als nicht-manifeste Realität, als potentielle Fluchtlinie hin zu neuen Konfrontationsräumen.
In diesem Sinne kann die virtuelle Klasse - oder die "immateriellen Arbeiter" - ich habe es immer vorgezogen, sie "Netzwerker" zu nennen - nicht den Rest der Weltbevölkerung vertreten.
Wenn das Individuum, der angebliche Träger von Menschenrechten, zunehmend zum Ziel technischer und ideologischer Manipulationen wird, gibt es kein universelles Subjekt zu repräsentieren. Aber eine aktive Nichtunterscheidung von Identität beginnt sich auszubreiten, gleich einem neuen Ausgangspunkt, und die künstlerische Erfahrung der multiplen Namen verweist auf einen der möglichen Wege zu einer Erneuerung kollektiver Autonomie. In einem kürzlich erschienenen Text lokalisiert der italienische Philosoph Paolo Virno das Universale in einer vor-individuellen Ästhetik und linguistischen Erfahrung, in der Un-Persönlichkeit der Wahrnehmung und der zirkulierenden Sprache. Die chaotische Zwietracht des öffentlichen Raumes wird so zur Landschaft nicht eines defensiven Individualismus, sondern entstehender Pfade in Richtung einer Individuation: "Weit davon entfernt zu regredieren, wird die Singularität geläutert und erreicht ihren Höhepunkt im gemeinsamen Handeln, in der Pluralität der Stimmen, kurz im öffentlichen Raum". [11]
Die Konflikte, die in den Universitäten der 60er Jahre ihren Anfang nahmen, reichen nun in den globalen Wissensraum hinein, dessen Charakter als öffentlicher Raum intensiv diskutiert wird. In welchem Ausmaß werden diese Netzwerke einen Raum der Kooperation bilden, und in welchem Ausmaß werden sie ein Raum der intensivierten Kontrolle sein? Wenn neue politische Stimmen einen Ausweg aus der flexiblen Persönlichkeit und eine Verweigerung des liberalen Faschismus anzeigen, dann werden die wilden Spekulationen der späten 90er Jahre nicht vergeblich gewesen sein - was auch immer die multiplen Namen der InvestorInnen sein mögen.
Dieser Text wurde ursprünglich in der Zeitschrift
Mute veröffentlicht.
[1] Zur eng verflochtenen Beziehung zwischen rechtlichen und technischen Aspekten des Internet siehe Lawrence Lessig, "The Internet Under Siege," <www.foreignpolicy.com/issue_novdec_2001/lessig.html>.
[2] Zitiert aus Theodor Adorno u. a., The Authoritarian Personality, (New York: Harper, 1950). Für eine tiefergreifende Untersuchung der Theorien zum Autoritarismus und ihrer dialektischen Umkehrung in der Gegenwart siehe mein Text über "The Flexible Personality", <www.noemalab.com/ sections/ideas/ideasarticles/holmespersonality.html>.
[3] Der europäische Kolporteur von The Crisis of Democracy war the französische Soziologe Michel Crozier, Autor eines wichtigen Buchs mit dem Titel La société bloquée (Die blockierte Gesellschaft). Der amerikanische Kolporteur, Samuel Huntington, hat seitdem ununterbrochen seine Ansichten verbreitet.
[4] Siehe Luc Boltanski und Eve Chiapello, Le Nouvel esprit du capitalisme (Paris: Gallimard, 1999).
[5] Zum Werk von Jordan Crandall siehe sein Buch Drive: projects and writings 1992-2000 (Cantz Verlag/ZKM, 2002), und seine Website, <http://jordancrandall.com>.
[6] Geschrieben unter dem Namen Boris Karloff, <www.uncarved.demon.co.uk/turb/articles/karloff.html>.
[7] Die beiden Zitate sind einer französischen Anthologie über die AAA entnommen, hg. von Ewen Chardronnet: Refuser la gravité (Nîmes: L'éclat, 2001); online unter <www.lyber-eclat.net>.
[8] Luther Blissett, Mind Invaders, Come fottere i media: manuale di guerriglia e sabotaggio culturale, Kap. 1, "Ray Johnson e Reggie Dunlop tra i Tamariani," <www.lutherblissett.net/archive/215-02_it.html> (Bemerkung: die "Übersetzungen" dieses Texts auf der Website sind unvollständig und sehr frei; das italienische Buch ist nicht dasselbe wie das von Stewart Home unter dem gleichen Titel herausgegebene).
[9] Wu Ming I (alias Roberto Bui), "Tute Bianche: The Practical Side of Myth Making," <www.wumingfoundation.com/english/giap/giapdigest11.html>.
[10] Der Gegensatz zwischen den Funktionen von "Exit" und "Stimme" in sozialen Konflikten wurde von Alfred O. Hirschman in einem Buch theoretisiert, auf das sich italienische Theoretiker häufig beziehen: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1970).
[11] In diesem Sinne liegen die "Multitudes" noch vor uns, anders als die von Hobbes beschriebene vorpolitische Multitude entstehen sie durch Austausch und Handlungen. Zitiert aus Paolo Virno, "Multitudes et principe d'individuation," in Multitudes Nr.7.