05 2021
Eine Grammatik der Freiheit
Vorwort von Toni Negri
Übersetzt von Gerald Raunig
Was ist das Leben einer kommunistischen Aktivist_in heute, das Leben einer Aktivist_in nach dem Untergang der Sowjets? Wie sieht ihr politischer Horizont aus, wenn ihre Autonomie und die ihrer Kämpfe nicht mehr mit den Modellen der Vergangenheit konfrontiert sind und die Geschichte der Arbeiter_innenklasse dem Image der Partei und der Dritten Internationale jede Grundlage entzogen hat?
Ich bin in den 1930er Jahren geboren und gehöre damit der letzten Generation an, die in der Welt der kommunistischen Parteien aufgewachsen ist.[1] Als ich anfing Politik zu machen, war es für mich selbstverständlich, die Aktion der Arbeiter_innenklasse auf das Modell der Partei der Arbeiter_innen zurückzuführen – dies geboten die großen Organisationen in den fordistischen Fabriken und der fordistischen Gesellschaft. Andererseits hatte das Licht der Sowjets in Stalingrad stark an Kraft gewonnen, im großen antifaschistischen Krieg, der dem Widerstand der Kommunist_innen den Sieg brachte und ihm auf der ganzen Welt Ansehen verschaffte. Und selbst die Neubelebung der kapitalistischen Herrschaft über Arbeit und Gesellschaft blieb von der Gegenmacht der Arbeiter_innen durchdrungen, die der ökonomische Keynesianismus und die staatliche Planwirtschaft im Aufbau des Wohlfahrtsstaats als Widerspiegelung des Oktobers anerkennen mussten. Das Leben einer kommunistischen Aktivist_in kann heute, in einer Zeit, in der diese Voraussetzung des Kampfes und der Gegenmacht auf lokaler und internationaler Ebene unwichtiger geworden sind, nur etwas zutiefst anderes sein als das, was meine Generation erlebt hat. Das Leben einer kommunistischen Aktivist_in ist heute vielmehr das Produkt einer radikalen Abkehr von den Modellen des politischen Apparats und der politischen Institution, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.
Zugleich aber – und das ist beeindruckend – zeigt sich in diesem aktivistischen Leben die Wirkung einer rückblickenden Überidentifikation mit den Ursprüngen und der konstituierenden Kraft der kommunistischen Bewegung. Es ist ein echtes Paradox, das hier durch das Gefühl und die Verhaltensweisen der neuen kommunistischen Aktivist_innen konstruiert wird: In genau dem Moment, in dem sie objektiv historisch gesehen jede Körperlichkeit verlieren, weil sie (mit dem Ende des „kurzen Jahrhunderts“) den Zugriff auf das Terrain der Revolution und die Fähigkeit verloren haben, ihre Zeitlichkeit zu bewahren, drücken sie sich auf immer radikalere Weise aus, weil sie subjektiv in die Ontologie des Klassenkampfes verpflanzt, in eine Historizität eingetaucht sind, die von fernher Gegenwart geworden ist. Nicht mehr slawische oder chinesische Namen erklingen heute, sondern europäische und amerikanische, mexikanische und arabische, Seattle und Genua, Tunis und Madrid, Kairo und New York. Und morgen? Auf dem Höhepunkt der kapitalistischen Macht weht ein starker, immer stärker werdender Wind!
In der wiederentdeckten Ontologie, auf der Suche nach Freiheit und in den Lohnkämpfen erzeugen diese Aktivist_innen Imagination. Der Begriff ist spinozistisch: Er verweist nicht auf etwas Phantastisches oder Träumerisches, sondern auf eine viel direktere, positivere, konkretere Fähigkeit, auf dem materiellen Horizont zu beharren: Imagination ist eine autonome Aktion, die die Aktivist_in in Konfrontation mit der Geschichte selbst produziert – sie ist dafür verantwortlich, sie überlässt und übergibt niemand anderem die Verantwortung. Eine Imagination, die sicheres Selbstvertrauen und die Fähigkeit besitzt, zu entscheiden, was zu tun ist, den erhofften Dingen Gestalt zu verleihen und die Gewissheit, dass sich die Aktivist_in, wenn sie ihre Aktion zum Ausdruck bringt, schnell aus der Einsamkeit befreit, denn sie wird immer von der Multitude genährt. Meine Generation gehorchte, um sich aufzulehnen – d.h. sie bewegte sich innerhalb der Kanons einer verbrauchten Tradition, die ebenso stark war wie an der Oberfläche vorgeschrieben – einer Oberfläche, die aus Kadern und Abläufen, Gewerkschaften und Politiken, aus Vertrag und Programm, Repräsentation und Vertrauen bestand. „Oberflächlich“ war sie deshalb, weil sie aus der kommunistischen Tradition oft nur den liturgischen Schmuck und eine erstickende Fremdheit aufgenommen hat. Die neue Generation hingegen kann auf die Ontologie der Bewegung zurückgreifen, auf eine ehrliche und offene Wahrnehmung dessen, was in der Ordnung von Protest und Anspruch, von Handeln und Aufbau primär ist. Sie ist weder ungehorsam noch gehorsam, sondern baut frei auf.
Zur Erläuterung: Sie sieht sich nicht der gleichen Realität gegenüber, die die Aktivist_innen der Arbeiter_innenklasse des neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhunderts gekannt haben, und auch nicht den gleichen Transformationen. Die Mutation, die sie erfährt, ist nicht von der Art, wie wir sie erlebt haben. Wenn die alten Organisationsmodelle zu einem bestimmten Zeitpunkt für uns nicht mehr funktioniert haben, dann deshalb, weil die Subjekte des Klassenkampfes sich verändert haben. Sie kämpften nicht mehr nach demselben Schema, in demselben Format. Die fordistischen Arbeiter_innen kämpften dafür, das Lohnsystem und die Sklaverei der Lebenszeit, der sie unterworfen waren, zu brechen, und sie wollten sich befreien, indem sie sich (in der Befreiung und im Aufbau) innerhalb der kapitalistischen Entwicklung bewegten und gegen sie kämpften. Heute hingegen sind es nicht mehr nur Protest oder Auflehnung, Ablehnung oder Kraft des Negativen, die in Bewegung gesetzt werden, sondern vielmehr kommt die Notwendigkeit hinzu, ein neues Imaginarium des Kampfes aufzubauen. Im Wesentlichen: ein Bild der Gegenmacht der Klasse, das natürlich die vielheitlichen Subjekte der Klasse einbezieht, aber auch Dimensionen von Geschlecht, „Rasse“ usw. Kurz gesagt ist das ein Projekt, das die Produktion und Reproduktion von Gütern und Gesellschaft, den Konsum des Lebens und den Austausch mit der Natur umfasst – eine echte Reform des historischen Designs der kapitalistischen Entwicklung. Heute haben die Kämpfe die „Form des Fortschritts“ zum Inhalt, in einer Weise, die die Dringlichkeit der Akkumulation ebenso ausschließt wie die durch sie verursachte Erstickung jedes alternativen vitalen Wunsches. Es ist ein vierfach multiplizierter Kapitalismus, mit dem die Aktivist_in heute konfrontiert ist: Sie muss ihn in gleichem Maße und mit gleicher Intensität zerstören, aber sie muss zugleich auch das Leben wieder aufbauen.
So reichert sich das Paradox, auf das wir oben hingewiesen haben (eine kommunistische Radikalisierung gerade am Ende der Ära des Sozialismus, gerade als es schien, dass diese Geschichte zu Ende war), weiter an und vertieft sich aufs Äußerste. Das ist der entscheidende Punkt, an dem die neuen Generationen entstehen: Hier gründet der Beginn der Schlacht nicht auf dem Mangel, auf der Qual einer Leere, sondern auf dem Wunsch nach Fülle, nach einem Überfluss an konstruktiven, aufbauenden Leidenschaften. Hier wiederholt sich die Revolution nicht, sie erfindet sich neu.
Es gab aber auch für meine Generation einen Moment, in dem sich für die Unterworfenen, die Proletarier_innen die Kreativität des Wunsches nach Transformation in überwältigender Weise einstellte: Das war 1968. Es bestärkte die Massen der Arbeiter_innen und Student_innen, „das Wort zu ergreifen“. Gegen den Algerienkrieg und den Vietnamkrieg entwickelten sich in beeindruckender Weise antiautoritäre und antikoloniale Aufstände. Warum führten sie nicht zu einer wirksamen Revolution? Warum ging „das Wort ergreifen“ nicht über das Wort hinaus? Wie man weiß, ist die Antwort darauf kompliziert und vielfältig. Sicher ist jedoch, dass es meiner Generation nicht gelungen ist, aus ihren tausend Schlachten jene eine zu machen – oder besser gesagt, jene Waffe zu formen, die einen entscheidenden Schlag gegen die kapitalistische Macht gebracht hätte. Andererseits bestand der Sieg des Kapitals auch nicht in einem endgültigen Schlag gegen seinen proletarischen Feind, es war nicht der Sieg des Pompeius über Spartacus, der auf der Via Appia mit Hunderten von Kreuzigungen gefeiert wurde. Nein, der Sieg des Kapitals über 1968 (der auf der Verschiebung des Schlachtfelds entlang epochal bedeutsamer technologischer Transformationslinien beruhte), ließ dem Kampf und der Imagination der Proletarier_innen noch viel Raum – auch wenn er die Illusion der Fabriken und Gewerkschaften zerschlug, das Kapital sei nicht mehr transformationsfähig. Die fordistische Fabrik endete, die Ära der „sozialen Fabrik“ begann, in der jede produktive und reproduktive Handlung, jeder Moment des verbundenen Lebens vom Kapital in Wert gesetzt wurde. Doch während sich Ausbeutung und Entfremdung unermesslich ausweiteten, begannen sich die Ausgebeuteten in der Mutation der Produktionsweise nicht nur als singuläre Akteur_innen im sozialen Netz der Produktion zu erkennen, sondern auch als Teilnehmer_innen an der kollektiven Produktion des Gemeinsamen. Die Arbeit hat sich verwandelt: einerseits als vergesellschaftete und abstrakte Arbeit, als ein Schritt vorwärts im kapitalistischen Prozess der Subsumtion und Ausbeutung; andererseits als vernetzte und singularisierte Arbeit, wodurch jenes soziale Individuum zum Leben erweckt wurde, auf dessen Macht nun jede Fähigkeit zur Inwertsetzung beruht. An diesem zeitgenössischen Knotenpunkt ist es dieses soziale Individuum, das „enteignet“ werden muss, es ist das Gemeinsame, das die Vergesellschaftung der vernetzten Arbeit hervorbringt, das Gemeinsame des Reichtums, das die Singularitäten zusammensetzen – das ist es, was das Kapital zerreißen muss, wenn es weiterhin dominieren will.
Gab es also einen kapitalistischen Sieg über ‘68? Ja, sicherlich. Aber die Transformation der Produktionsweise brachte ein neues Subjekt hervor. Wir, meine Generation, wurden besiegt. Nicht die Jugendlichen, die am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Kampf wieder aufnahmen, die zu immateriellen Arbeiter_innen geworden waren, die sich unerwartete technologische Fähigkeiten angeeignet hatten, neue Akteur_innen im Drama des Klassenkampfes, das sich in diesem neuen Terrain abspielte. Das Leben einer kommunistischen Aktivist_in muss heute tatsächlich in diesem Rahmen des Gemeinsamen bewertet werden.
Wer heute kämpft, wer in dieser neuen sozialen Realität als kommunistische Aktivist_in lebt, hat ein neues Bild der Befreiung von der Ausbeutung und projiziert es in ein gutes Leben der Leidenschaften, die ontologisch vom Gemeinsamen und vom Vermögen sprechen. Wir vertrauen auf diese wahre und echte Wiedergeburt der Generation viel entschiedener, als wir den Menschen vertrauen konnten, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wirkten – jenen, die durch die große technologische Revolution, die sie erlebt haben, besiegt und verwandelt wurden … Heute verblassen ihre Tugenden müde am Horizont.
Ich bitte um Verzeihung für diese lange einleitende Reflexion, da doch meine Aufgabe darin besteht, die Arbeit von Raúl Sánchez Cedillo vorzustellen. Wenn ich sie als Vorwort zu seinen hier abgedruckten politischen Essays der letzten Jahre formuliert habe, dann deshalb, weil Raúl in jeder Hinsicht ein homo novus ist. Spreche ich über das Prekariat, ist er schon immer prekär; schreibe ich als Akademiker, schreibt er als Aktivist; verwende ich alte Kategorien (manchmal in der Besessenheit, sie abzulehnen), spielt er mit neuen Konzepten und organisiert sie für neue Subjekte; ermüde ich oft, zu oft, um Probleme herum, die mir die Erinnerung an ein Leben beschert hat (und versuche ich in meiner Erschöpfung manchmal, den Müll unter den Teppich zu kehren), nimmt Raúl die heutigen Probleme frontal auf und verweigert sich der Möglichkeit, die Diskussion darüber aufzuschieben. Denn für ihn ist das politische Problem hier und jetzt, und er glaubt nicht, dass es versteckt werden kann, selbst wenn er es für unlösbar hält. Grundlegend ist die Bestimmung des Problems, seine Präsenz, ich würde sagen, sein Bevorstehen. Die Ontologie hat immer Vorrang vor der Rhetorik. Ich habe argumentiert, dass der Gramsci‘sche Aphorismus „Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens“ für die Menschen meiner Generation vielleicht vernünftig war, aber sicherlich falsch bei der Definition der Aufgabe der heutigen kommunistischen Aktivist_in. In der Bekräftigung dieser Position möchte ich diesen Spruch mit der Figur (und dem Willen) des konkreten Aktivisten konfrontieren, die sich in den hier vorgelegten Schriften auftut. Raúl weiß, dass die Realität komplex ist und manchmal Entscheidungen des Bruchs erfordert, und in dieser Perspektive weiß er das Ereignis zu lesen; aber er weiß auch, dass der Intellekt (ob er nun „optimistisch“ ist oder nicht) – beispielsweise von 1968, aber besonders im vergangenen Jahrzehnt nach dem 15M[2], im Postfordismus, in der kapitalistischen Gesellschaft der Extraktion des Werts aus dem Gemeinsamen der Gesellschaft – sicherlich Teil des enormen Potenzials ist, das die intellektuelle und verbundene Arbeit (des Gemeinsamen) hervorbringt. Auf der anderen Seite muss sich der Wille – sofern seine Wirkung kurz und gering ist – eher diesem Vermögen anpassen und in ihm bleiben: ein „Pessimismus des Willens“, um den „Optimismus des Intellekts“ abzuschwächen, Besonnenheit, Ablehnung des ideologischen Extremismus und des Terrorismus, die Fähigkeit, in die Realität einzutauchen, und eine gewisse Demut, die fast so tut, als würde sie sich von der Bewegung überholen lassen ..., um ihre Tendenz zu erfassen, sicherlich, aber nicht einzeln, nicht abstrakt, sondern nur, soweit sie Multitude ist. Sie sind unsere Nachkommen, diese neuen kommunistischen Aktivist_innen, diese neuen widerständigen Partisan_innen, aber um wie viel weiser und politischer als wir!
Zwei oder drei kurze Anmerkungen zum Schluss:
Zunächst zum Thema der Organisation – die in der Sprache dieser neuen Generationen nicht darin besteht, Käfige und/oder ineffektive institutionelle Wege zu konstruieren, sondern darin, die Beziehung zwischen Lebensformen und politischen Ausdrucksweisen zu bestimmen. Nun wird der gesamte Fundus der alten Organisationsfiguren des Politischen (als Parlamentarier_innen und/oder in der soziologischen Ableitung) beiseitegelegt. Das Thema der Repräsentation ist ausgetrocknet und zur Inaktualität verdammt. Und doch versteht sich keine_r dieser Genoss_innen als Individual-Anarchist_in. Die kommunistische Aktivist_in gründet ihre Ablehnung der Repräsentation auf den Anspruch einer Form der politischen Organisation, die zugleich eine Form des Lebens und der sozialen Produktion ist: des kollektiven Lebens, der damit assoziierten Produktion, des Gemeinsamen, des Aufbaus einer „anderen“ Welt im antikapitalistischen Kampf. Das Gemeinsame ist jetzt das Gewebe des Politischen, es ist der Motor, der organisiert – d.h. es bewegt die Singularitäten im politischen Handeln und ermöglicht die gegenseitige Durchdringung der Lebensformen und der Figuren, der Weisen des politischen Ausdrucks.
Man versteht (wenn man von diesen Annahmen ausgeht), wie gewalttätig der Zusammenstoß gewesen sein muss, den die von Podemos – gegen die Aufständischen des 15M – getroffene Wahl zum Aufbau orthodoxer Formen der Parteiorganisation ausgelöst hat. Podemos behauptete und behauptet, dass direkte Demokratie nicht möglich, eine Illusion ist, und dass man, um Politik zu machen, auf jeden Fall durch das parlamentarische Nadelöhr gehen muss. Aber die 15M-Bewegung erhob sich, um genau dieser Illusion gerecht zu werden. Wird es möglich sein, fragen sich Raúl und seine kommunistischen Genoss_innen, diesem Aufstand eine andere Perspektive zu geben? Ja: es ist der Weg des Gemeinsamen, der eingeschlagen werden muss, der Weg, auf dem die Anerkennung der Gemeingüter, die unser Leben und unsere lebenswichtigen Ökonomien organisieren, mit der Subjektivierung dieser Anerkennung in der Organisierung einer Stiftung (nicht einer Partei) des Gemeinsamen (Fundación de los Comunes)[3] verflochten ist. Die Subjektivierung des Gemeinsamen bildet die politische Dimension des Lebens. Daraus ergibt sich die Konkretheit der politischen Kämpfe, die vom Mindesteinkommen zum universellen Grundeinkommen, von der Bekräftigung des Rechts auf Wohnen für alle bis zur autonomen Verwaltung des sozialen Wohlergehens von unten reichen. Und das immer, indem die eigene organisatorische Autonomie als soziale Gegenmacht wirkt.
Aus dieser Perspektive führen die in diesem Buch publizierten Schriften aus den Jahren 2007 bis 2021 die Diskussion in der Frage zusammen, ob (und wie) wir neue politische Schöpfungen, neue Institutionen erschaffen können. Diese Frage begann Raúl bereits vor dem 15M zu stellen – als in Europa viel in Bewegung war und in Spanien (so schien es zumindest) sehr wenig.[4] 15M veränderte die Landschaft und rückte die Ereignisse in Spanien in den Mittelpunkt der Szenerie. Der Kampf öffnete sich seit dem Ereignis 15M in Richtung der Definition eines neuen institutionellen Horizonts. Wir haben es bereits gesagt, für Raúl ist der Weg klar: Wir bauen ein Netzwerk von trans(in)dividuellen munizipalistischen Institutionen auf[5], Gegenmächte, die mit dem „demokratischen“ System brechen, das beim Sturz des Franquismus auferlegt wurde. Ein neuer „Republikanismus“ ist gereift.
Aber diese Forderung wäre – zweitens – nicht neu, wenn sie nicht von dem Bewusstsein durchzogen würde, dass es eine neue politische „Anthropologie“ der citoyen_nes gibt, die es ermöglicht, die konstituierende Macht und die Ethik der Solidarität zusammenwirken zu lassen – und zwar auf allen Ebenen der Machtausübung und des teilhabenden Ausdrucks der Bürger_innen an den Institutionen. Hinter der Gegenmacht, auf deren Grundlage die „direkte Demokratie“ durchgesetzt werden soll, muss dann eine Frau, ein Mann, eine Arbeiter_in, eine Produzent_in usw. stehen, die – in einer systemischen Perspektive – in der Lage sind, das Funktionieren der Institution zu steuern. Die „Körpermaschine“, die Raúl aus dieser Perspektive begrifflich erarbeitet, ist keineswegs umständlich oder abstrakt, sie ist eher „maschinisch“ und offen für das „Trans(in)dividuelle“. Die systemische Komplexität zu steuern und sie immer offen zu halten: das sind die Aspekte, mit denen Raúl seine Nähe zur Lehre von Guattari und Deleuze deutlich macht, und auf andere Weise zu Simondon. Innerhalb dieses Rahmens ist das Ergebnis immer eine strategische Ablehnung jeglicher Fixierung der Bewegungsprozesse: die Wiedergeburt von Podemos als „Partei“ und ihre entschlossene Einführung der „Autonomie des Politischen“ erscheinen Raúl als das, was sie sind: als die Domestizierung der politischen Macht der Multitude, völlig illusorisch, und schnell auch katastrophisch. Die „Körpermaschine“ und ihre vielheitliche Ausdehnung können diese unnatürlichen Verdrehungen nicht ertragen.
Wie sollen wir aber, und das ist der dritte Punkt, Politik machen? Indem wir uns weiterhin für eine Emanzipationsbewegung einsetzen, die immer stärker wird, immer mehr ihrer Stärke bewusst, und diese Stärke als Gegenmacht zum Ausdruck bringen kann. Auch dies scheint ein widersprüchliches Projekt zu sein: Wie soll es möglich sein, eine Gegenmacht aufzubauen, die in der Lage ist, einen lebendigen Punkt des politischen Angebots und der sozialen Agitation aufzubauen und vielleicht auch aufständische Kraft auszuüben, aber auch ihre eigene Kontinuität entlang eines Prozesses zu wahren, der kein vorgeschriebenes Ergebnis hat? Eine Gegenmacht, die sich immer wieder, oft auf chaotische Weise, als unsicheres Produkt des Klassenkampfes präsentiert? Die Antwort ist hier offen für die libertäre Imagination. Wir sind in dem verworrenen Horizont, der heute durch die tragische Kombination von Pandemie und Krise der neoliberalen Politik gekennzeichnet ist, keineswegs unsicher, ein Licht der Hoffnung zu erfassen, in dem das Ereignis des Gemeinsamen im Zusammenprall zwischen der kapitalistischen Disziplin und dem Vermögen der neuen Generationen auftaucht.
Hoffnungen, das Ereignis des Gemeinsamen, neue Institutionen? Das sind Worte – die Worte eines alten Kommunisten, der ich bin und der hier versucht, ein „Politikmachen“ zu verfolgen, das für ihn völlig unerreichbar geworden ist. Und ich kann dennoch bezeugen, dass Raúl, je mehr er in diesem Buch die sinnlosen Pfade des herrschaftlichen Kommandos und die illusorischen Strategien der Autonomie des Politischen in der Linken ablehnt, umso unmittelbarer die Knotenpunkte der politischen Prozesse erfasst wie auch die widersprüchliche, immer radikaler problematisch werdende Natur der aktuellen Geschichte des politischen Neoliberalismus. In der Lektüre dieses Buches fasziniert die Heiterkeit einer jungen und lebendigen Intelligenz, und sie illustriert die Wahrheit der Kritik. Freude, Imagination, Hoffnung an den kritischen Rändern der kapitalistischen Herrschaft: Das ist das Regime der Leidenschaften, das Raúl den Leser_innen vorschlägt. Es geht nicht nur um glückliche Intuitionen, sondern um das Angebot einer Grammatik der Befreiung.
Das Absolute der Demokratie
Gegenmächte, Körper-Maschinen, transdividuelles Netzwerksystem
Raúl Sánchez Cedillo
transversal texts, Mai 2021
https://transversal.at/books/das-absolute-der-demokratie
---
[1] Zu Toni Negris politischer Arbeit um die 1950er Jahre vgl. den ersten Teil seiner autobiografischen Trilogie: Toni Negri, Storia di un Comunista, Milano: Ponte alle Grazie 2015. Die Anmerkungen dieses Vorworts sind von transversal texts hinzugefügt.
[2] Am 15. Mai 2011 begann die Besetzung der zentralen Plätze Spaniens, die in der Linie der Platzbesetzungen des Arabischen Frühlings eine neue soziale Bewegung erschuf. Mehrere Texte dieses Bands analysieren diese Bewegung unter der Chiffre 15M, die mehr als nur ein Datum ist, Ereignis und Bewegung zugleich.
[3] Zum diskursiven Gefüge der Fundación de los Comunes, an deren Entwicklung in der Nachfolge der Universidad Nómada (2001-2012) Raúl Sánchez Cedillo maßgeblichen Anteil hat, vgl. die Website https://fundaciondeloscomunes.net/.
[4] Zu Europa als politischem Raum vgl. den gemeinsamen Band von Toni Negri und Raúl Sánchez Cedillo, Für einen konstituierenden Prozess in Europa, Wien et al.: transversal texts 2015.
[5] Zu den Entwicklungen des spanischen Munizipalismus in den 2010er Jahren vgl. Christoph Brunner, Niki Kubaczek, Kelly Mulvaney und Gerald Raunig (Hg.), Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegung und die Regierung der Städte, Wien et al.; transversal texts 2017.