Ungefüge. Hörbuch
Gerald Raunig
Nach der Publikation von Ungefüge als zweitem Band von „Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution“ und den beiden Übersetzungen des Buchs ins Englische (Minor Compositions) und ins Spanische (Subtextos / Cactus) präsentiert transversal texts nun auch das erste vollständige Hörbuch. Die Stimmen von Isabell Lorey, Antonio Negri, Stefan Nowotny, Suely Rolnik, Birgit Sauer und Ruth Sonderegger setzen Gerald Raunigs Experiment der theoretischen Form nun als Audiobook fort.
Ungefüge entfaltet eine wilde Materialfülle der Ungefügigkeit, von den vielsprachigen Übersetzungsmaschinen in al-Andalus über die queere Mystik des Hochmittelalters und die kleinen Stimmen des Falsetts in Jazz und Soul des 20. Jahrhunderts bis zu heutigen Unfugen und Umfugen gegen die glatte Stadt der Ziffer im maschinischen Kapitalismus. Halbfiktives verwebt sich mit akribisch untersuchten historischen Quellen, mystische Schriften mit Freundesbriefen, philosophische Fragmente mit poetischen Ritornellen. Mehr als Erzählungen über Ungefüge aus sozialen Umgebungen, Ding- und Geisterwelten, sind Buch und Hörbuch formal und inhaltlich dividuelle Mannigfaltigkeiten, aus den Fugen, in den Fugen, Ungefüge.
[: Ritornell 10, 2020/1299. Uma nova suavidade :]
Gelesen in Englisch von Suely Rolnik, deutsche Übersetzung (Buch S. 27-30):
[: Lieber Gerald,
Entschuldige bitte, dass ich so spät auf Deinen schönen Brief antworte. Wie wir alle versuche ich, mit dieser bakteriellen und politischen Pandemie umzugehen (die in Brasilien gerade ihren Höhepunkt erreicht und alle Schwellen des Erträglichen überschritten hat). Ich achte darauf, meinen Körper in einem Zustand zu halten, in dem er all diese Affekte auffangen und verarbeiten kann, und gebe meiner Seele die nötige Zeit dafür, Worte zu finden, um sie in den kollektiven Aufbau einzubringen, den wir jetzt auf der ganzen Welt betreiben. Es geht mir also gut. Aber ich kann Briefe, die mir wichtig sind, nicht so schnell beantworten, wie ich das gerne möchte.
Es gibt eine unglaubliche Resonanz zwischen dem, womit ich mich gerade befasse, und dem, woran Du arbeitest. Hier einige Aspekte dieser Resonanz:
1) In einem Online-Seminar für einen Kunst-PhD der Universität Saragoza erprobten wir vor kurzem mit drei anderen Dozentinnen ein Workshop-Format, in dem wir unser Alter verzehnfachten und danach unser fiktives Geburtsjahr errechneten. Für eine Stunde sollten wir uns in dieser Zeit aufhalten, um von da aus andere Zeiten zu wählen, bis in die Gegenwart. Mein Geburtstag war am Ende des 13. Jahrhunderts. Und ich bin von da aus als jüdische Frau dieser Zeit auf eine ganze Reise aufgebrochen. Bewegt von der Erinnerung an die Erfahrung des Körperwissens stellte ich fest, dass es zu dieser Zeit die soziale Funktion der Frau war, Körperwissenzupraktizieren und zu entwickeln,sich aus dieser Perspektive um die Sozial- und Umweltökologie zu sorgen, nicht nur um die Familie, um bei Bedarf das Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. (Abgesehen davon wurde mir klar, dass die Sorge um die Familie keineswegs mit ihrer konkreten heutigen Funktion übereinstimmte, auf die wir seit Beginn des kolonial-rassifizierend- kapitalistischen Regimes des Unbewussten und seiner heteropatriarchalen Seinsweise beschränkt sind.) Und dann verspürte ich den Terror der Unterbrechung dieser Praxis unter der Gewalt der Inquisition (die natürlich untrennbar mit jenem Regime verbunden ist) und die Dringlichkeit, auszureißen und an einem unbekannten Ort bei Null anzufangen. Und die Reise ging weiter – neu beginnend, ausreißend, immer und immer weiter bis heute. Ich fühlte mich so wohl, als mir bewusst wurde, dass ich das Körperwissen immer mitnehmen konnte, während ich diese über sechs Jahrhunderte aufeinanderfolgenden Wellen der Gewalt gegen das Körperwissen durchquerte und es heute immer und immer und immer wieder aktualisiere. Die Embryonen der Zukunft, die uns bewohnen, werden nie zerstört, nur ihre Keimung ist unterbrochen. Mit Benjamin könnte man sagen, dass unsere Beziehung zur Vergangenheit darin besteht, die begrabenen Embryonen der Zukunft auszugraben, um sie in der Gegenwart zum Keimen zu bringen. Heute, unter der neuen Faltung des Kapitalismus, ist die Macht seines Regimes des Unbewussten über die Produktion von Subjektivität und ihre Existenzweisen (die mikropolitische Sphäre) so verfeinert, dass der Kampf in dieser Sphäre zu einer unumgänglichen Dringlichkeit wird. Das Körperwissen (das ökoethologische Wissen, oder einfach nur die „Intuition“) ist der Kompass des mikropolitischen Widerstands( ein ethischer Kompass), und es wurde unter jenem Regime des Unbewussten deaktiviert, dessen mikropolitische Strategie in der Abspaltung der Subjektivität besteht. Diese Strategie trennt die Subjektivität von unserer Erfahrung als lebendige Elemente unter anderen belebten und unbelebten Elementen, die die Biosphäre bilden und dafür verantwortlich sind, die Umwelt- und Sozialökologie im Gleichgewicht zu halten.
2) Teresa von Ávila hat mich schon immer interessiert. Ich habe ihr Buch und lese manchmal Teile davon, und auch den Ausdruck der Transverberation habe ich von ihr. Du erwähnst ihre Beschreibung für die sechste und letzte Stufe der Heiligung, die sich darauf bezieht, dass sie „die vollständige Einwohnung ihres Körperwissens“ fühlte. Traditionell bezieht sich das Wort „Einwohnung“ auf das Gefühl der Einwohnung des heiligen Geists. Diese Erfahrung und ihre Bezeichnung dafür ist ein Akt des mikropolitischen Widerstands gegen die Aufwertung des Geists, die eine der wichtigsten mikropolitischen Strategien des Römischen Reiches darstellte, dann auch bei der Gründung der katholischen Kirche als Basis für das kolonial-rassisierende-kapitalistische Imperium.
3) Ich wusste nicht, dass Ridley Scott beim Director’s Cut von Blade Runner, zehn Jahre nachdem der Film in die Kinos gekommen war, die romantische Schlussszene des Films herausgeschnitten hat (diese Art „Happy End“, in der Deckard und Rachael Gefahr laufen, wieder in die Geschlechter-Figuren des normopathischen und pathetischen heteropatriarchalen Skripts von Mann und Frau zu verfallen). Ich habe sehr gelacht über Deine Vorstellung, dass Ridley Scott vielleicht „Uma nova suavidade“, meinen Text von 1982, gelesen hat ... Natürlich hat er das nicht getan, aber interessant ist die Resonanz zwischen ihm und mir und so vielen anderen im Jahr 1982, als wir den Beginn des körperlichen Auseinanderbrechens dieser Figuren erlebten, und wiederum zehn Jahre später, als das Experiment bereits viel weiter darin fortgeschritten war, andere Figuren und ein anderes Gewebe der Beziehungen zwischen ihnen zu schaffen.
Kisses,
Suely
São Paolo, im Juni 2020 :]
Der Flow des Kommentators
Gelesen von Birgit Sauer; Buch S. 31-61
[: Ritornell 11, 1978/1933/1950/1904. Queere Fuge :]
Gelesen von Isabell Lorey; Buch S. 63-66
[: Ritornell 12, 2020. Da Toni :]
[: Ritornell 13, 1148/1248. Ästhetische Wahrscheinlichkeit :]
Gelesen von Birgit Sauer, Buch S. 87-92
Die eingemauerte Frau. ... und alle unvuoge verbirt
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 93-100
[: Ritornell 14, 1982/2020. Une nouvelle douceur? :]
Gelesen von Gerald Raunig; Buch S.101-106
Wilbirg von St. Florian ... inmortalitatis similitudine in novam transtulerat creaturam
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S.107-125
[: Ritornell 15, 2000/2020. For Toni, with love :]
Gelesen von Gerald Raunig; Buch S. 127-132
Marguerite Porete. Comment ceste Ame est semblable a la Deité (Fern-Nah / Die „kleine Kirche“ und ihre Vernunft / Ein Meer der Liebe)
Gelesen von Birgit Sauer und Ruth Sonderegger, Buch S. 133-181
[: Ritornell 16, 1940/1992. Anthem :]
Gelesen von Isabell Lorey, Sound: Alexander Tuchaček, Buch S. 183-185
Ungefüge der freien Seelen
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 187-199
[: Ritornell 17, 1975 u.a. Vor und vor dem Gesetz :]
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 211-213
Kapitalismus und Ziffer
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 215-228
Die glatte Stadt
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 229-234
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[: Ritornell 18, 2018. Taubenmöwentauben :]
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 235/236
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Territorium und Sorge. Ökonomie der Subsistenz
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 237-253
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[: Ritornell 19, 2020. Lob der Technökologie :]
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 255-258
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Kleine Stimme, molekulare Revolution
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S.261-282
Mu, Nu, Gegengesang. Vorbemerkungen zu einer Musikgeschichte der dividuellen Mannigfaltigkeit
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 283-300
[: Ritornell 20, 1602-1197. Ungefügige Glossen. Hamlet und kein Ende :]
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 301-305
Von der Unmunt zum Ungefüge
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 307-317
[: Ritornell 21, 2018/2000/2017/2006/2009/2011/2002/2012/2011/2019/2007/2000/2004/2011. Wiederkehr des Nus, Wiederkehr der Ungefüge :]
Gelesen von Gerald Raunig; Buch S. 319-332
Sechs Usagen zum Ungefüge
Gelesen von Isabell Lorey Buch S. 333-336
[: Ritornell 22, 2015-2020. Et al. - Danksagung, 2 :]
Gelesen von Isabell Lorey, Buch S. 337